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Teil 1: Vor 50 Jahren - Völkermord an Ungarns Juden

Teil 1:

Vor 50 Jahren - Völkermord an Ungarns Juden

Bis zum Frühjahr 1944 waren die Juden Ungarns von der deutschen Vernichtungsmaschinerie weitgehend verschont geblieben. Solange hatte Ungarn, obwohl mit Deutschland im Krieg verbündet und selbst eines der am meisten antisemitischen Länder Europas, dem seit 1942 ausgeübten deutschen Druck widerstanden, seine jüdische Bevölkerung in die Vernichtungslager auszuliefern. Etwa 725.000 Juden im religiösen Sinn lebten zu dieser Zeit in Ungarn. Unter ihnen befanden sich auch viele, die aus anderen Ländern unter NS-Herrschaft geflüchtet waren. Hinzu zu zählen waren nach nazi-deutschem, nicht aber nach traditionellem ungarischem Verständnis rund 100.000 Juden im biologischen Sinn: Christen jüdischer Geburt oder Abstammung.

Von Mitte Mai bis Anfang Juli 1944 rollte dann Zug um Zug aus Ungarn Richtung Auschwitz. Güterzüge, in die man bis zu 4.000 Menschen gezwungen hatte, zwei oder drei solche Transporte im Tagesdurchschnitt. Mindestens zwei Drittel der in Auschwitz Ankommenden wurden noch am selben Tag in die Gaskammern getrieben. Die Übrigen, als "arbeitsfähig" ausgesondert, überlebten auch nur, sofern und solange sie die extremen Bedingungen und Grausamkeiten in den Lagern und Betrieben der SS überstanden und falls sie nicht den sadistischen Launen des Wachpersonals zum Opfer fielen. Weniger als ein Viertel der aus Ungarn Deportierten überlebten das Kriegsende.

Als Ungarns Staatschef Horthy Anfang Juli 1944 die Einstellung der Transporte anordnete, kurz bevor die Juden von Budapest an der Reihe gewesen wären, waren innerhalb von nicht einmal zwei Monaten ungefähr 430.000 Menschen nach Auschwitz geschafft worden. Das Martyrium der ungarischen Juden aber war noch nicht beendet, zumal nachdem im Oktober 1944 mit deutscher Hilfe die nazistische "Pfeilkreuzler"-Partei die Macht übernahm.

Randolph L. Braham, der Historiker des ungarischen Holocaust, kommt zu dem Ergebnis, daß von den rund 825.000 Juden Ungarns 565.000 ums Leben kamen, während 260.000 überlebten - davon allein in der Hauptstadt Budapest 119.000.

Die "Endlösung der Judenfrage"

Die Absicht Hitlers und anderer maßgeblicher NS-Politiker, die Sonderbedingungen des Krieges zur "Vernichtung", zur "Ausrottung" der Juden Europas zu benutzen, ist bei vielen Gelegenheiten explizit und öffentlich verkündet worden. Den Anfang machte wohl Göring, der bei einer Konferenz nach dem Novemberpogrom von 1938 unter Berufung auf Hitler bekannt gab: "Wenn das Deutsche Reich in irgendeiner absehbaren Zeit in außenpolitischen Konflikt kommt, so ist es selbstverständlich, daß auch wir in Deutschland in allererster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung an den Juden zu vollziehen."

Hitler selbst sagte in seiner Rede zum Jahrestag der Regierungsübernahme am 30. Januar 1939: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa." Auf diese, wie er selbst es gern nannte, "Prophezeiung" kam Hitler während der Krieges in mehreren Reden zurück.

Die direkte Ausführung dieses Völkermord-Plans begann im Sommer 1941, mit dem Überfall auf die Sowjetunion. Es waren "Einsatzgruppen" gebildet worden, deren Hauptaufgabe neben dem Aufspüren von kommunistischen Funktionären und Partisanen darin bestand, alle erreichbaren Juden zusammenzutreiben und zu erschießen. Über eine Million Menschen wurden von diesen mobilen Mordkommandos innerhalb weniger Monate umgebracht.

Ungefähr gleichzeitig wurde mit dem Auf- oder Umbau von Lagern speziell für den Massenmord, in erster Linie in Gaskammern, begonnen: Treblinka, Sobibor, Majdanek und Belzec im sogenannten Generalgouvernement, im besetzten Polen. Außerdem Kulmhof/Chelmno und Auschwitz in polnischen Gebieten, die 1939 direkt ans Deutsche Reich angeschlossen worden waren.

Auschwitz hatte in erster Linie die Funktion, die Transporte aus dem Westen, Süden und Südosten Europas aufzunehmen, während die übrigen Vernichtungslager vorwiegend den Massenmord an den 2,5 Millionen Juden Polens verrichteten. Seit Ende März/April 1942 trafen in Auschwitz in zunehmender Zahl Transporte aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien und der Slowakei ein.

Das Ziel der NS-Führung war die vollständige Einbeziehung sämtlicher Juden im deutschen Einflußgebiet in die "Endlösung", d.h. ihre Ermordung - unmittelbar oder im Verlauf von Zwangsarbeit unter grausamsten Bedingungen. Dieser Plan sollte so schnell wie möglich durchgeführt werden: Erstens deshalb, weil man von der Voraussetzung ausging, daß ein so ungeheuerliches, historisch beispielloses Unternehmen relativ am problemlosesten unter den Ausnahmebedingungen des Krieges durchgeführt werden könnte. Zweitens, weil nach der Kriegswende (Ende 1942/Anfang 1943) im Angesicht der immer wahrscheinlicher werdenden totalen Niederlage die "Vernichtung" der Juden zu einem Wettlauf gegen die Zeit wurde. Schließlich bekam dieses Ziel die Qualität des einzigen und unter allen Umständen noch zu realisierenden Kriegserfolgs.

Schwierigkeiten mit den Partnern

Als Hemmnis und Hindernis bei der Verwirklichung dieses Plans erwies sich der Umstand, daß die mit Deutschland verbündeten Staaten eigene Absichten verfolgten und nicht einfach herumkommandiert werden konnten. Das faschistische Italien beispielsweise, als mit Abstand stärkster und daher auch unabhängigster Partner, stand antijüdischen Maßnahmen deutschen Stils völlig ablehnend gegenüber. Italienische Stellen schützten Juden auch in den besetzten Ländern, wo man sich in die Kontrolle teilte, wie in Griechenland und Jugoslawien.

Die drei südöstlichen Verbündeten Deutschlands - Ungarn, Rumänien und Bulgarien - waren zwar im Gegensatz zu Italien selbst traditionell antisemitisch geprägt. Aber auch sie gaben dem immer stärker werdenden deutschen Druck, ihre Juden für den Abtransport "ins Reich", d.h. nach Auschwitz, zur Verfügung zu stellen, nicht ohne weiteres nach. Am ehesten waren die Regierenden dieser Staaten bereit, "fremde", nicht oder kaum assimilierte Juden zu opfern - also solche, die erst durch die Grenzveränderungen während des Krieges oder als Flüchtlinge unter ihre Herrschaft gekommen waren.

So beteiligten sich rumänische Stellen zwar im Sommer und Herbst 1941 an massenhaften Juden-Massakern in den eroberten oder zurückgewonnenen Gebieten der Sowjetunion, Bessarabien (heute Moldova) und Bukowina. Hingegen wurden die Juden innerhalb der rumänischen Vorkriegsgrenzen zwar schikaniert und diskriminiert, blieben aber von der "Endlösung" verschont.

Dabei hatten die zuständigen deutschen SS- und Polizeistellen im August 1942 gemeldet: "Die Vorbereitungen in politischer und technischer Hinsicht in bezug auf die Lösung der Judenfrage in Rumänien sind durch den Beauftragten des Reichssicherheitshauptamtes soweit abgeschlossen, daß mit dem Anlaufen der Evakuierungstransporte in Zeitkürze begonnen werden kann. Es ist vorgesehen, die Juden aus Rumänien, beginnend etwa mit dem 10.9.1942, in laufenden Transporten nach dem Distrikt Lublin zu verbringen, wo der arbeitsfähige Teil arbeitseinsatzmäßig angesetzt wird, der Rest der Sonderbehandlung (übliches Tarnwort für das Morden in den Gaskammern - Anm. des Autors) unterzogen werden soll." (1) Aus der Meldung geht ferner hervor, daß schon "seit einiger Zeit" auch die "Besprechungen mit dem Reichsverkehrsministerium zwecks Fahrplanerstellung" im Gang waren.

Obwohl der Stand der Vorbereitungen offensichtlich schon weit vorangeschritten war und angeblich sogar das schriftliche Einverständnis des Diktators Antonescu zum Beginn der Deportationen vorlag, machte Rumänien plötzlich Einwände, spielte auf Zeitgewinn, bis im November 1942 eine unbefristete Verschiebung beschlossen wurde. Inzwischen hatte die große sowjetische Gegenoffensive bei Stalingrad begonnen, wobei die rumänischen Einheiten besonders schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden. Als Hitler im März 1943 Antonescu im persönlichen Gespräch unter Druck setzen wollte, die rumänischen Juden doch noch in die deutschen Vernichtungslager auszuliefern, hatte er ebenfalls kein Glück: Angesichts der sich abzeichnenden Kriegswende suchte die rumänische Führung Geheimkontakte zu den Westmächten und zeigte keine Neigung mehr, sich durch eine Beteiligung an der "Endlösung" noch mehr als schon geschehen zu kompromittieren. Statt dessen verhalf man lieber Tausenden von Juden, darunter auch Flüchtlingen aus Ungarn und anderen Ländern, zur Ausreise nach Palästina.

Analog dazu war bis zum Frühjahr 1944 die Entwicklung in Ungarn verlaufen, die gleich näher betrachtet werden soll. Bulgarien hatte 1942 zwar die jüdische Bevölkerung der von ihm annektierten griechischen und jugoslawischen Gebiete zur Deportation nach Treblinka freigegeben. Als im März 1943 auch die Juden des bulgarischen Kerngebiets abtransportiert werden sollten, erhob sich jedoch ein politischer Widerstand, der bis ins Parlament und die führenden Kreise des Landes hinein reichte. Im Mai 1943 demonstrierten in Sofia mehr als zehntausend Menschen, unter maßgeblicher Beteiligung der illegalen Kommunistischen Partei, gegen die Absicht, die Juden der Hauptstadt in die Provinz zu schaffen und von dort aus weiter in die Vernichtungslager zu deportieren. Mit Erfolg: Das bulgarische Regime entzog sich daraufhin der "Endlösung".

Auf einem internationalen Forum in Sofia, das im November 1988 zum Gedächtnis an diese Ereignisse stattfand, sagte der Oberrabbiner von Rom, Elio Toaff: "Ich frage mich, wie viele Juden gerettet worden wären, wenn sich alle Völker der durch die Soldaten des Dritten Reiches besetzten Länder so verhalten hätten wie das bulgarische Volk." (2) - Ein wesentlicher Punkt für das Verständnis der damaligen Vorgänge ist allerdings, daß Bulgarien im politischen Sinn kein besetztes Land war, sondern ein selbständiger Partner in der nazi-faschistischen Kriegskoalition.

"Judenfrage" und Friedenskontakte

Warum stieß die Durchsetzung des deutschen Völkermordplans gegen die Juden auf so vergleichsweise starken Widerstand in den verbündeten Ländern?

Erstens wurde die extrem unmenschliche Konsequenz der allgemeinen und unterschiedslosen, industriemäßig durchgeführten Menschenvernichtung von vielen Antisemiten mißbilligt. Mehr als im äußersten Fall die Vertreibung aller Juden aus ihrem Land strebten außerhalb Deutschlands auch radikale Judenfeinde zumeist nicht an; viele von ihnen stimmten daher der zionistischen Option, Auswanderung aller Juden nach Palästina, zu.

Zweitens wurden die Juden, jedenfalls deren seit längerem im Land lebender, weitgehend assimilierter Teil, als Staatsbürger gegen die Einmischung und Ansprüche anderer Regierungen verteidigt. Staaten, die selbst die Bürgerrechte ihrer Juden einschränkten und sie in allen Bereichen diskriminierten, waren dennoch nicht bereit, sie einfach an Deutschland auszuliefern, sondern sahen sich in einer Art von patriarchalischer Schutzpflicht. Das war für die mit Deutschland verbündeten, durchweg nationalistisch geprägten Staaten auch eine Frage des Stolzes und der Selbstbehauptung gegenüber einem übermächtigen Partner, der sie mit seinen immer größeren Forderungen und seiner Arroganz ohnehin in die Enge trieb.

Drittens waren seit der beginnenden Kriegswende Ende 1942/Anfang 1943 alle Kriegspartner des Deutschen Reichs bemüht, sich die Option eines Ausstiegs unter möglichst vorteilhaften Bedingungen zu öffnen, in erster Linie durch diskrete Kontaktaufnahme zu amerikanischen und englischen Vermittlern. Andererseits ging aus den Erklärungen der alliierten Regierungen seit Frühjahr 1943 eindeutig hervor, daß die Behandlung der Juden je nachdem ein Türöffner oder ein Hemmnis für solche Kontakte sein konnte. Das Verhalten der Verbündeten gegenüber dem deutschen Drängen auf Beteiligung an der "Endlösung" war daher auch von der Überlegung bestimmt, sich zu diesem Zeitpunkt des Krieges möglichst wenig noch zusätzlich zu kompromittieren.

Auch die Konkurrenzsituation zwischen den Kriegspartnern spielte dabei eine Rolle: Die ungarische Regierung beispielsweise argumentierte gegenüber dem deutschen Drängen nach schärferen antijüdischen Maßnahmen einige Zeit erfolgreich mit dem Hinweis, von Rumänien würden solchen Schritte schließlich auch nicht verlangt.

Umgekehrt ergab sich daraus das Drängen der deutschen Stellen, in der "Judenfrage" ein möglichst einheitliches Vorgehen, einen "Gleichschritt" zwischen den verbündeten Staaten zu erreichen. Sonderwege in der "Judenfrage" galten als äußerst gefährliches Indiz, daß der jeweilige Staat auch auf anderen Gebieten eigene Wege zu gehen versuchte. Typisch dafür ist die Argumentationsvorgabe des deutschen Außenministeriums, mit der begründet werden sollte, warum man die Auswanderung bulgarischer oder ungarischer Juden nach Palästina strikt unterbinden müsse: "Tatsache allein von Verhandlungen über Judenausreise ermöglicht 1., daß unsere gemeinsame Politik in dieser Frage nicht gleichgerichtet sei; 2., daß Sonderhandlungen vielleicht auch in anderen Fragen erfolgreich verlaufen könnten; 3. Verhandlungen liefern den Feindmächten jedenfalls Propagandamaterial (...)." (3)

Die Voraussetzungen in Ungarn

Ungarn war zur Zeit des Zweiten Weltkriegs immer noch ein überwiegend agrarisch strukturiertes Land. Knapp die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung lebte von der Landwirtschaft, nur weniger als ein Viertel arbeitete in Industrie und Handwerk, wobei in der Industrie die Kleinbetriebe dominierten. Über 60 Prozent der Bevölkerung lebten auf dem Lande, 18 Prozent in der Hauptstadt Budapest und 20 Prozent in anderen Städten.

Entsprechend diesen Grundlagen hatten sich die alten Klassen- und Herrschaftsstrukturen noch weitgehend erhalten. Eine dominierende Stellung nahm immer noch eine kleine Gruppe von Adel und Großgrundbesitz ein. Im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg entstand daneben eine Kapitalistenklasse und ein städtischer Mittelstand, an denen Juden sowie auch Konvertierte und Menschen jüdischer Abstammung einen erheblichen Anteil hatten. Dem entsprach auch der vergleichsweise hohe Urbanisierungsgrad der jüdischen Bevölkerung: Während der Anteil von Juden an der Einwohnerzahl Ungarns um 1910 bei etwa 6 Prozent lag, betrug er in Budapest rund 25 Prozent. In einigen mittelständischen Berufszweigen der Hauptstadt - Ärzte, Rechtsanwälte z.B. - lag der Anteil von Juden noch über dieser Marke. Freilich befand sich die große Mehrheit der erwerbstätigen Juden in lohnabhängiger Stellung, und die Massenarmut war unter ihnen jedenfalls nicht geringer als in der übrigen Bevölkerung Ungarns.

Einige Familien jüdischer Kapitalisten schafften unter diesen Verhältnissen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Aufstieg in die Oberschicht. Ein großer Teil des intellektuellen jüdischen Mittelstands galt als hochgradig assimiliert und staatstreu. Ungarn, damals Teil des Habsburger Imperiums, war ein territorial aufgeblähtes Gebilde, in dem zwei Drittel der Bevölkerung keine Magyaren, keine Ungarn im ethnischen Sinn, waren. Der jüdische, ungarisch sprechende Mittelstand galt vor dem Ersten Weltkrieg zu großen Teilen als loyale Stütze der magyarischen Dominanz in diesem multinationalen Gebilde. Diese Faktoren erklären, warum die herrschende Kaste des Landes zu jener Zeit am Antisemitismus nicht sehr interessiert war.

Aufgrund der Teilhabe an der deutsch-österreichischen Niederlage im Ersten Weltkrieg mußte Ungarn eine Verkleinerung seines Staatsgebiets auf ein Drittel des bisherigen Volumens hinnehmen. Über eine Million Magyaren blieben in der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien außerhalb der neuen Landesgrenzen. Ungarn wurde eines jener Länder, die besonders aggressiv eine Veränderung des "Systems von Versailles" und insbesondere ihrer Grenzen forderten. So wurde das Land zu einem engen Weggenossen Nazi-Deutschlands. Da Ungarn mit dessen Hilfe 1938-41 einige der 1918 verlorenen Gebiete zurückgewann, war in den herrschenden Kreisen des Landes dann die Tendenz sehr stark, "auf Gedeih und Verderb" in der Kriegskoalition auszuharren, da nur diese den territorialen Bestand Ungarns sichern konnte.

Eine weitere wesentliche Voraussetzung der späteren Entwicklung lag in dem Umstand, daß in Ungarn 1919 der Versuch einer sozialistischen Revolution, der Proklamation der Sowjetmacht, von der alten Herrschaftskaste blutig niedergeschlagen wurde. Seither behielt sie Züge der etablierten Konterrevolution mit stark diktatorischer Färbung, repräsentiert in der Person des "Reichsverwesers" (-verwalters) Horthy. Rechtlich nahm er die unbesetzt bleibende Stelle des Königs von Ungarn ein. Von 1919 bis zum Putsch der nazistischen "Pfeilkreuzler"-Partei im Oktober 1944 blieb Horthy die große Konstante der ungarischen Politik.

In der Konterrevolution von 1919 wurden erstmals antijüdische Gewalttaten großen Umfangs verübt. Die Kräfte der alten Ordnung machten, wie vielerorts, "die Juden" für den Ausbruch der Revolution verantwortlich. In diesem Klima wurde im September 1920 jenes erste diskriminierende Gesetz verabschiedet, mit dem Horthy noch 1943/44 zu argumentieren versuchte, um zu beweisen, daß er sich von den deutschen Nazis keine Belehrungen über richtigen Antisemitismus gefallen lassen müsse. (4)

Das Gesetz von 1920 beschränkte den Zugang von Juden zu Universitäten und anderen höheren Lehranstalten auf den jüdischen Bevölkerungsanteil, 6 Prozent. Obwohl so nicht zur praktischen Durchführung gekommen und in den folgenden Jahren real wieder abgeschwächt, förderte dieser erste Numerus clausus antijüdische Stimmungen und zeigte, daß die traditionelle "Interessengemeinschaft" zwischen der katholischen Oberschicht und Teilen des jüdischen Mittelstandes zerbrochen war. Ein scharfer Antisemitismus wurde nun zu einem bestimmenden Zug der ungarischen Gesellschaft. Von der traditionellen Oberschicht wurde er mehr oder weniger mitgetragen und gefördert, wenn auch gelegentlich in seinen "Auswüchsen" eingedämmt. Hauptbasis des radikalen Antisemitismus war der zahlenmäßig stark zunehmende christliche Mittelstand - Beamte, akademische Berufe - der in "den Juden" Konkurrenten um die zu kleine Zahl einträglicher Posten und weiterführende Karriere-Chancen sah. Es entstanden, mehr oder weniger in Opposition zum Regime der traditionellen Herrenkaste, etliche nazistische Parteien. Den größten Zulauf hatten die "Pfeilkreuzler", deren soziale Demagogie auch bei Arbeitern und kleinen Angestellten verfing.

Die deutsche Politik tendierte, in Ungarn ähnlich wie auch in Rumänien, zum Bündnis mit der traditionellen Oberschicht. Offen nazistische Parteien wurden eher mit Distanz und sogar Mißtrauen betrachtet: Ihre soziale Demagogie weckte Besorgnisse; entsprechend ihrer nationalistischen Ideologie betonten sie auch gegenüber deutschen Ansprüchen die Selbständigkeit und den Stolz ihres Landes; außerdem war den deutschen Stellen unter Kriegsbedingungen Stabilität und Berechenbarkeit der Verhältnisse, garantiert durch eine populäre Figur wie Horthy und das traditionelle Machtgefüge um ihn herum, wichtiger als ein wilder Ideologie-Export.

Ungarns "Judenpolitik" bis zum März 1944 ...

1938 wurde ein neues antijüdisches Gesetz verabschiedet. Es sah vor, den Anteil von Juden in den akademischen Berufen sowie in Finanz-, Handels- und Industrie-Unternehmen auf 20 Prozent zu begrenzen bzw. zwangsweise zu senken. Dies Ziel sollte innerhalb von fünf Jahren erreicht werden, teils durch Zugangssperren, teils durch Entlassungswellen.

1939 wurde, offensichtlich beflügelt durch deutsche Vorbilder, ein Gesetz in Kraft gesetzt, das die Regierung ermächtigte, "die Auswanderung der Juden voranzutreiben". In der Begründung hieß es, "die Judenfrage" sei ihrem Wesen nach international und verlange ein internationales Herangehen. Ungarn habe den Fehler gemacht, das Problem mit westlichen Methoden lösen zu wollen, während die meisten jüdischen Einwanderer osteuropäischer Herkunft seien.

Im Juli/August 1941 leistete Ungarn seinen ersten Beitrag zur deutschen "Endlösung". Die Opfer waren "ausländische" Juden: in erster Linie Flüchtlinge aus Polen, der Slowakei u.a., außerdem in den letzten Jahren Eingewanderte, aber auch ungarische Juden, deren Papiere nicht in Ordnung waren. Etwa 18.000 solcher Juden wurden ins besetzte Polen abgeschoben und damit zumindest faktisch - ob bewußt, läßt sich nicht nachweisen - den Erschießungskommandos der deutschen SS und Sicherheitspolizei ausgeliefert.

Im Januar 1942 wurden mehrere tausend Juden von ungarischen Armee-Angehörigen im annektierten nordjugoslawischen Gebiet erschossen und erschlagen, angeblich im Rahmen sogenannter Vergeltungsaktionen für Partisanentätigkeit. Da diese Massaker in der ungarischen Öffentlichkeit und auch im Parlament auf Widerspruch stießen, entschloß man sich, einige Hauptverantwortliche vor Gericht zu stellen: Sie wurden im Dezember 1943 zu Haftstrafen von 11 bis15 Jahren verurteilt. Allerdings machten es ihnen die zuständigen Behörden nicht allzu schwer, gegen Ehrenwort auf freien Fuß zu kommen und sich ins Deutsche Reich zu flüchten, wo man sich ihrer asylbietend annahm.

Im Sommer 1942 nahm der deutsche Druck zu, den begonnenen Völkermord an den europäischen Juden systematisch auf das gesamte deutsche Einflußgebiet auszudehnen und die noch zögernden unter den verbündeten Regierungen entsprechend zu bearbeiten. Ein Gesamtüberblick aus dem Außenministerium, der in dieser Hinsicht im Wesentlichen "Erfolgsmeldungen" (teilweise unwahr oder übertrieben) aneinander reiht, verzeichnet zum Punkt Ungarn jedoch nur einen einzigen Satz: "An die ungarische Regierung ist wegen Judenaussiedlung noch nicht herangetreten worden, weil der Stand der ungarischen Judengesetzgebung bisher einen ausreichenden Erfolg nicht verspricht." (5) Außenminister Ribbentrop gab sogar ausdrücklich Anweisung, gegenüber Ungarn "von jeder Initiative unsererseits abzusehen" (6), offenbar um ein unkoordiniertes Vorpreschen Einzelner zu vermeiden.

Anfang September 1942 legte Unterstaatssekretär Luther im Auftrag Ribbentrops dem ungarischen Botschafter in Berlin, Sztójay, den deutschen Forderungskatalog zur "Judenfrage" vor, dessen Hauptpunkte lauteten:

- Maßnahmen zur vollständigen Ausschaltung der Juden aus dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben.
- Kennzeichnung der Juden. ("Judenstern" o.ä.)
- "Evakuierung der Juden nach Osten" - einer der üblichen Tarnausdrücke für den Massenmord in den Vernichtungslagern.
- Nicht zu vergessen eine Einigung über das Eigentum der Opfer: Nach deutschen Vorstellungen sollte der Besitz ungarischer Staatsbürger jüdischer Konfession in den besetzten Gebieten Deutschland zufallen.

Sztójay reagierte zuerst mit der schlauen Frage, ob man denn die gleichen Forderungen auch an Italien gestellt habe, was verneint wurde. Er entwickelte dann die typische Argumentation, wie sie in solchen Auseinandersetzungen immer wieder von ungarischer Seite vorgetragen wurde, um die deutschen Dränger abzuwehren: Daß es Ungarn an ernsthafter antijüdischer Einstellung nicht fehle, sondern man vielmehr europäischer Vorreiter sei, habe man ja schon 1919/20 unter Beweis gestellt. Aber es möge doch bitte bedacht werden, daß die Situation viel komplizierter sei als in Deutschland: Ungarn habe einen der höchsten Anteile jüdischer Bevölkerung in Europa. Die Stellung der Juden in der Wirtschaft des Landes sei außerordentlich stark. "Überhastete" judenfeindliche Maßnahmen würden daher unvermeidlich Chaos und Produktionsrückgang hervorrufen. Daran könne Deutschland doch nicht interessiert sein, zumal da die ungarische Industrie und Landwirtschaft überwiegend für die Wehrmacht und die deutschen Konsumenten arbeiteten. Sztójay stellte auch die Frage, was denn von den "Gerüchten" zu halten sei, die "in den Osten evakuierten" Juden würden dort umgebracht. Das wurde rundum bestritten: Die Juden würden zur Arbeit eingesetzt und human behandelt.

... und die deutschen Ansichten

Im April 1943 war die "Endlösung" eines der zentralen Themen in den Besprechungen, die Hitler mit Horthy und mit Antonescu (Rumänien) hatte. Horthys Klagen über Ungarns Wirtschaftsprobleme - die primär durch die deutsche Ausplünderung verursacht waren - gaben Hitler das Stichwort: Daran seien die Juden schuld. Weiter im Text des Protokolls: "Auf die Gegenfrage Horthys, was er denn mit den Juden machen solle, nachdem er ihnen so ziemlich alle Lebensmöglichkeiten entzogen habe - erschlagen könne er sie doch nicht - erklärte der RAM (Außenminister Ribbentrop - Anm. d. Autors), daß die Juden entweder vernichtet oder in Konzentrationslager gebracht werden müßten. Eine andere Möglichkeit gäbe es nicht." - Etwas später Hitler: Die Juden seien "eben reine Parasiten. Mit diesen Zuständen habe man in Polen gründlich aufgeräumt. Wenn die Juden dort nicht arbeiten wollten, würden sie erschossen. Wenn sie nicht arbeiten könnten, müßten sie verkommen. Sie wären wie Tuberkelbazillen zu behandeln, an denen sich ein gesunder Körper anstecken könne." (17.4.43)

Kurz nach diesem Treffen verfaßte der deutsche Diplomat Veesenmayer einen langen "Bericht über Ungarn" (30.4.43) Veesenmayer war mit einem Spezialauftrag nach Ungarn geschickt worden; im März 1944 kehrte er dann dorthin als "Generalbevollmächtigter" zurück, nahezu mit den Befugnissen eines Statthalters versehen und mit der besonderen Aufgabe, die Deportation der ungarischen Juden zu überwachen. Aus Veesenmayers Bericht vom April 1943 sollen hier einige Sätze zitiert werden, die typisch für die politische Interpretation der "Judenfrage" durch deutsche Funktionsträger in diesem Stadium des Krieges sind.

"Der Schlüsselpunkt für die defaitistische Einstellung der maßgeblichen Kreise in Ungarn und die weitgehende Sabotage des gemeinsamen Kriegszieles ist vorwiegend im Judentum Ungarns zu suchen." Der jüdische Einfluß sei nicht nur im ungarischen Wirtschaftsleben, "sondern auch in allen übrigen Sparten mehr oder minder dominierend". (Veesenmayer nennt falsche, maßlos überhöhte Zahlen.)

"Der Grundzug der ungarischen Bevölkerung ist gekennzeichnet durch einen weitgehenden Defaitismus, um nicht von Feigheit zu sprechen. Die Angst vor Bombardierungen ist so stark, daß sie auch bis weit in national-oppositionelle Kreise hineinreicht. Man sieht daher in dem starken Anteil und der Bedeutung des Judentums den besten Garanten, um vor jedem ernsten Luftangriff geschützt zu sein."

"Die derzeitige ungarische Regierung, das Judentum und breite Schichten des Bürgertums glauben nicht an den Sieg der Achsenmächte und wünschen ihn auch nicht. Sie hoffen, daß sich sowohl die deutschen als auch die russischen Kräfte gegenseitig so weit erschöpfen, daß praktisch der Engländer, bzw. der Amerikaner als Sieger ohne das Risiko eines größeren Einsatzes übrig bleibt. Von ihnen erwarten sie auf Grund ihrer gastfreundlichen Einstellung zum Judentum Schonung und wohlwollende Behandlung. Sie sehen im Judentum einen Garantieschein für den Schutz der ,ungarischen Belange` und glauben, durch die Juden den Nachweis führen zu können, daß sie diesen Krieg nur gezwungenermaßen an der Seite der Achsenmächte geführt haben, in Praxis aber durch latente Sabotage indirekt einen Beitrag für die Gegner der Achsenmächte lieferten."

Im Kern beschreibt diese Analyse ein wesentliches Motiv des Horthy-Regimes, sich der deutschen "Endlösung" zu entziehen, nämlich das außenpolitische Kalkül, wohl zutreffend - auch wenn das, siehe oben, nicht der einzige Grund für die relative Zurückhaltung Ungarns war.

Die Kriegslage im Frühjahr 1944

Ungarn war im Juni 1941 recht bereitwillig in den Krieg gegen die UdSSR eingetreten. Das Hauptmotiv seines Rivalen Rumänien für diese Entscheidung, territoriale Eroberungen, spielte dabei keine Rolle, denn Ungarn hatte keine gemeinsame Grenze mit der UdSSR. Die Hoffnung auf Beteiligung an der Ausplünderung der Bodenschätzen der Sowjetunion war vielleicht ein Faktor, aber dies war jedenfalls nicht mehr als eine vage Hoffnung. Ein wesentlicher Kriegsgrund Ungarns war zweifellos der tief verwurzelte Antibolschewismus seiner herrschenden Kaste. Noch wichtiger war, daß das ungarische Regime der Meinung war, sich an dem Krieg gegen die UdSSR beteiligen zu müssen, um nicht später gegenüber dem Rivalen Rumänien den kürzeren zu ziehen. Die Unterstützung Deutschlands und Italiens hatte Ungarn 1940 zur Rückgabe Nord-Transsylvaniens verholfen, das nach dem Ersten Weltkrieg von Rumänien annektiert worden war. Sich aus dem gemeinsamen Krieg gegen die UdSSR herauszuhalten, hätte für Ungarn das Risiko bedeuten können, in einem künftigen Konflikt mit dem stärkeren Nachbarn nicht mehr auf die Hilfe Berlins und Roms zurückgreifen zu können.

Daß Ungarn einige Monate später auch mit Großbritannien und den USA in Kriegszustand geriet - woraus praktisch erst einmal nichts folgte, da Ungarn noch außerhalb der Reichweite der alliierten Bomber lag - war aus Sicht der herrschenden Kaste des Landes ein großes Mißgeschick. Sie hätten ein taktisches Wechselspiel oder jedenfalls die Möglichkeit dazu vorgezogen. Gezwungenermaßen alles auf die deutsche Karte setzen zu müssen, war eigentlich nicht ihre Politik. Ungarns Regime war faschistoid, aber eben doch nicht nazistisch; so gab es beispielsweise einige legale Oppositionsparteien, ein Parlament, Wahlen. Satellit des Deutschen Reichs zu sein, war keineswegs der Wunschtraum der herrschenden Kreise Ungarns.

Die Kriegswende Ende 1942/Anfang 1943 ging für Ungarns Armee mit einem Schlag einher, der sie ungleich schwerer traf als der Schaden der deutschen Wehrmacht durch die Niederlage von Stalingrad: Bei der sowjetischen Offensive am Don im Januar 1943 ging praktisch alles, was Ungarn an der "Ostfront" hatte, ein Armeeverband von 200.000 Mann, unter: Zehntausende von Toten und Verwundeten, weitere zehntausende von Gefangenen, der Rest löste sich in ungeordneter Flucht auf. Die ohnehin schlecht ausgerüstete ungarische Armee verlor bei diesem wilden Rückzug zudem fast alles, was sie an schweren Waffen besessen hatte.

Von diesem Zeitpunkt an bemühte sich Budapest immer wieder um die deutsche Zustimmung, seine verbliebenen Truppenteile ganz aus der "Ostfront" herauszuziehen und die neu aufzubauende ungarische Armee nur noch zur Verteidigung der Landesgrenzen einzusetzen. Militärisch war der Beitrag Ungarns ohnehin vergleichsweise gering, aber ihm in dieser Situation den Rückzug zu gestatten, hätte andere Staaten zu ähnlichen Forderungen ermutigt, an erster Stelle Rumänien, wo sich die Zweifel am deutschen "Endsieg" auch schon regten. Immerhin kam als Einigung heraus, daß Ungarn keine Truppen mehr direkt an die Front schicken mußte, sondern nur noch Einheiten für Besatzungsaufgaben abzustellen hatte.

Im Sommer 1943 kündigte der Sturz Mussolinis und der Seitenwechsel Italiens den Zusammenbruch der nazistisch-faschistischen Allianz an. Von diesem Zeitpunkt an verstärkten sich die Versuche Rumäniens, Ungarns, Bulgariens und Finnlands, Kontakte zu den "Feindmächten" zu knüpfen, um die Friedensbedingungen im Fall ihrer Kapitulation zu erfahren. Schauplätze dieser Bemühungen waren die Hauptstädte der neutralen Länder: Bern, Stockholm, Istanbul, Lissabon, Madrid. Man bewegte sich dort in einer kleinen Welt aus Diplomaten und Geheimdienstlern, die sich gegenseitig kannten und wo nicht viel verborgen bleiben konnte. Man war also in Deutschland im großen und ganzen über die Kontaktversuche informiert.

Jedes weitere Land nach Italien, das aus der Kriegskoalition ausscherte, konnte die übrigen noch schneller nach sich ziehen. Im Fall Ungarns kamen weitere Gesichtspunkte hinzu: Erstens die Geographie. Nach einer Kapitulation Ungarns wäre Rumänien militärisch nicht mehr zu halten und die Alliierten stünden direkt an den Grenzen des Deutschen Reichs. Zweitens die Bedeutung Ungarns für die deutsche Kriegswirtschaft: Ein erheblicher Teil der Rüstungsproduktion war hierhin ausgelagert worden; die Rohstoffe für die kriegswichtige Produktion von Aluminium kamen großenteils aus Ungarn; seine Landwirtschaft half deutsche Versorgungsprobleme mildern - um den Preis der Verschärfung seiner eigenen Nöte. Selbst Ungarns schwache Erdölvorkommen firmierten in dieser Schlußphase des Krieges, wo sich für die Wehrmacht immer stärker der Energiemangel bemerkbar machte, als wichtiger Posten in den Analysen.

Ende September 1943, kurz nach der Kapitulation Italiens (8.9.) begann in der Wehrmachtsführung die Eventualplanung für eine schnelle und überraschende Besetzung Ungarns, Deckname "Margarete". Sie sollte in dem Moment durchgeführt werden, wo sich ein Macht- und Bündniswechsel abzeichneten. Ende Januar 1944 kam noch "Margarete II" dazu, ein Plan für eine analoge Aktion in Rumänien. Die Vorbereitungen dafür ließ Hitler jedoch einen Monat später wieder einstellen, nachdem er bei einem Treffen mit Antonescu den Eindruck gewonnen hatte, die Loyalität dieses Partners sei nicht gefährdet.

Der definitive Entschluß, Ungarn zu besetzen und einen Regierungswechsel zu erzwingen, scheint Anfang März 1944 gefallen zu sein. Eine wesentliche Rolle für diese Entscheidung spielte die Entwicklung beim Bündnispartner Finnland, der die Front inzwischen fast an seinen Grenzen hatte und sehr intensiv mit der UdSSR über die Waffenstillstands-Bedingungen verhandelte. Am 4. März notierte Goebbels nach einem Gespräch mit Hitler in seinem Tagebuch: "Im Zusammenhang mit der finnischen Angelegenheit ist der Führer jetzt auch fest entschlossen, die ungarische Frage zu lösen. (...) Ist die Armee einmal entwaffnet, dann kann man an die Frage der ungarischen Aristokratie und vor allem des Budapester Judentums herangehen. Denn solange die Juden in Budapest sitzen, kann man mit dieser Stadt und auch mit dem Lande, insbesondere aber mit seiner öffentlichen Meinung, nichts machen."

Einen Tag vor der geplanten Militäraktion, am 18. März 1944, ließ Hitler Horthy zu sich kommen, um ihn zur Zustimmung zu nötigen. Denn der "große alte Mann" der ungarischen Konterrevolution und Reaktion sollte im Amt bleiben, um die Loyalität der Herrenkaste und der Armeeführung zu gewährleisten. Nachdem er sich mehrere Stunden lang zäh gewehrt hatte, stimmte Horthy schließlich einer Erklärung zu, die den deutschen Einmarsch als einen von Ungarn gewünschten Vorgang im Dienste der gemeinsamen Kriegsanstrengungen legitimierte.

Was hatte ihn dazu veranlaßt? Die deutsche Seite verfügte über mehrere starke Druckmittel: Erstens die Drohung, man werde die Besetzung in jedem Fall durchführen; jedoch würden bei einer Verweigerung Horthys auch rumänische, slowakische und kroatische Einheiten unter den Besatzungstruppen sein. Zweitens wurde angedroht, wie 1943 in Italien praktiziert, die ungarische Armee vollständig zu entwaffnen und zu internieren. Horthy wählte das aus seiner Sicht "kleinere Übel" und öffnete damit, wie er selbst sehr wohl wußte, die Tür zum ungarischen Holocaust.

Am 19. März 1944 rückten Einheiten der Wehrmacht, begleitet von SS und Sicherheitspolizei, in Ungarn ein. In ihrem Gefolge auch ein Stab von rund 200 Mann unter Leitung von Adolf Eichmann, der ohne Zeitverzögerung die "Erledigung der Judenfrage in Ungarn", die Vorbereitungen für Konzentration und Deportation von über 800.000 Juden - Eichmann selbst und andere nannten gelegentlich auch die Zahl eine Million - in Angriff nahm.

Knut Mellenthin

ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 365 / 13.04.1994


Anmerkungen:

1) Mitteilung des Gesandten von Rintelen an den Unterstaatssekretär im Außenministerium, Rintelen; 19.8.42.

2) Nach dem Bericht über das Forum in der "Süddeutschen Zeitung" vom 21.11.88.

3) Note Rademachers, Amtsleiter der Abteilung D III ("Judenfrage") im Außenministerium, an den deutschen Botschafter in Budapest; 10.3.43.

4) Sichtlich gekränkt schrieb Horthy am 7. Mai 1943, nachdem er gerade wieder einen belehrenden Monolog hatte über sich ergehen lassen müssen, an Hitler: "Ich hoffe, ohne Überheblichkeit auf die Tatsache hinweisen zu dürfen, daß ich zu meiner Zeit der erste war, der seine Stimme gegen das destruktive Verhalten der Juden erhob. Seither wurden von mir geeignete Maßnahmen ergriffen, um ihren Einfluß zurückzudrängen. Für diesen, zur damaligen Zeit neuen Kurs wurde mein Land von Deutschland und vom Rest der Welt boykottiert."

5) Unterstaatssekretär Luther vom Außenministerium an den Gesandten von Rintelen; 21.8.42.

6) Von Rintelen an Luther; 25.8.42.


Literatur-Empfehlungen:

Randolph L. Braham mit seiner zweibändigen Arbeit "The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary" (New York 1981) ist das absolute "Muß" für eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema. Braham ist außerdem Herausgeber einer umfangreichen Dokumenten-Edition, die sämtliche relevanten deutschen Korrespondenzen, Noten usw. zum ungarischen Holocaust in Faksimile enthält. - Einen kürzeren Überblick bietet das Ungarn-Kapitel von László Varga in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen, nach Ländern aufgebauten Buch "Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus", München 1991. - Margit Szöllösi-Janze hat umfassend die historischen und materiellen Voraussetzungen des ungarischen Faschismus untersucht: "Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn", München 1989. - Jenö Lévai ist Autor einer Studie, deren spezieller Wert in der Wiedergabe zeitgenössischer Pressemeldungen und Kommentare, in erster Linie aus der Schweiz, zum ungarischen Holocaust liegt: "Abscheu und Grauen vor dem Genocid in aller Welt..", 1968 erstmals auf ungarisch erschienen. - Die Memoiren des letzten ungarischen Regierungschefs vor dem deutschen Einmarsch im März 1944, Nicholas Kallay, geben die Sichtweise des vergleichsweise "gemäßigteren" Flügels des ungarischen Regierungslagers wieder: "Hungarian Premier...", New York 1954. - Die Memoiren Horthys kann man sich wegen Inhaltslosigkeit gern schenken. Hingegen ist die von Miklós Szinai u.a. herausgegebene Edition von Horthy-Briefen, geheimen Memoranden u.ä. eine interessante Fundgrube: "The Confidential Papers of Admiral Horthy", Budapest 1965.