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Die Goldhagen-Debatte - war's das schon?

Die Goldhagen-Debatte - war's das schon?

Die Auseinandersetzung um Daniel Goldhagens Buch über Hitlers willige Vollstrecker oder Henker scheint bereits wieder beendet. Noch bevor sie ernsthaft beginnen konnte, war sie zur flachen Propagandaschlacht um allgemeinverständliche, talkshow-kompatible Schlagworte geworden, die keine Kenntnis des Buches, geschweige denn des Themas, voraussetzen. Wieviel von der Diskussion wirklich in den Köpfen hängen geblieben ist und über den Tag hinaus nachwirkt, ist nach bisherigen Erfahrungen ungewiß.

Daß der Streit begann, bevor das Buch in deutscher Sprache erschienen war, ist vermutlich noch nicht einmal der entscheidende Punkt. Sich vehement über ein Buch zu streiten, das man entweder nicht richtig gelesen oder inhaltlich nicht hinreichend verstanden hat, entspricht ohnehin dem allgemeinen Zug der Zeit, den man als charmante Oberflächlichkeit oder auch als schleichende Analphabetisierung bezeichnen könnte. Und der Autor, der sich während einer Podiumsdiskussion vom Publikum per Akklamation bestätigen läßt, daß im Saal niemand die durch und durch abwegige Meinung seines wissenschaftlichen Kontrahenten teile - wie von Goldhagen in Berlin gegen Mommsen vorgeführt -, ist leider eine höchst zukunftsfähige Figur.

Im Zentrum von Goldhagens Buch steht eine interessante Frage. Sie betrifft nicht nur die Motive und das Weltbild der unmittelbaren Täter, der direkt ausführenden Mörder und Mordgehilfen. Vielleicht noch wichtiger ist die Frage nach den Hunderttausenden von indirekten Tatbeteiligten und nach dem Verhalten von Millionen Deutschen in diesem Zusammenhang.

In den letzten Jahren sind eine Reihe von Büchern erschienen, die sich auf empirischer Grundlage genau mit dieser zentralen Frage nach der "deutschen Öffentlichkeit" und der deutschen Bevölkerung im Verhältnis zum Holocaust beschäftigen. (13). Goldhagen hat diese Arbeiten konsequent ignoriert und krönte diese Ignoranz noch mit der häufig wiederholten Behauptung, er sei so ziemlich der erste, der sich an das bisher unentdeckte Thema gewagt habe. Dabei hat er zur Frage selbst nicht nur nichts neues, sondern außer spekulativen Deduktionen überhaupt nichts beigetragen.

Im wesentlichen besteht Goldhagens nicht absolut neuartige Idee darin, von der Befindlichkeit der Täter, die er pauschalisierend als "gewöhnliche Deutsche" darstellt, auf die Stellung der breiten Bevölkerungsmehrheit zum Holocaust zu schließen. Ausgehend von der historisch ohne weiteres nachweisbaren Tatsache, daß Verbrechen, auch Völkermordtaten, in aller Regel überwiegend von "gewöhnlichen" Menschen begangen werden, kann man nach Goldhagens Methode ohne empirische Analyse fast alles behaupten, was man will.

Die Freiheit der Wahl

Zwei Hauptthesen hat Goldhagen in den Diskussionen um sein Buch als Zusammenfassung seiner Aussagen mehrfach formuliert: 1. "Die ganz große Mehrheit derjenigen, die Juden töteten, glaubten, daß sie im Recht seien - sie glaubten dies aufgrund eines konkreten Bildes, das sie von den Juden hatten." - 2. "Wenn die große Mehrheit der Deutschen sich in der selben Situation wie die Täter befunden hätte, hätten sie genauso gehandelt, weil sie genauso antisemitisch dachten." (1)

Die Judenmörder und ihre Helfer hatten die Freiheit der Wahl, schreibt Goldhagen. Es stand ihnen frei, den Mordauftrag abzulehnen. Kein deutscher Soldat oder Polizist sei wegen einer solchen Verweigerung bestraft worden. In der Regel seien noch nicht einmal nennenswerte persönliche Nachteile zu befürchten gewesen. Aber trotzdem hätten nur wenige von dieser ihnen gebotenen Möglichkeit Gebrauch gemacht. Schlußfolgerung: "Hitler's willing executioners" stimmten aufgrund ihres eigenen "exterminationistischen" Antisemitismus mit dem Mordauftrag überein. Den meisten habe das Morden und Quälen sogar Spaß gemacht und sie mit Stolz erfüllt.

Viele Rezensenten haben sich dieses Argument Goldhagens zu eigen gemacht. Einige haben es auf eigene Faust noch weiter ausgebaut. Götz Aly beispielsweise glaubt ganz genau zu wissen: "Die Betreffenden wurden weder als 'Waschlappen' gehänselt noch drangsaliert, sondern verständnisvoller Menschenführung zuteil. Sie erhielten andere Aufgaben, nicht selten in der Heimat." (2) - Mag auch sein, der eine oder andere wurde von seinem Kommandanten mit einer Wärmflasche ins Bett geschickt und sanft in den Schlaf gesungen.

Daß kein Deutscher hingerichtet oder eingesperrt wurde, weil er nicht am Judenmorden teilnehmen wollte, scheint jedenfalls zuzutreffen. Offenbar hat aber keiner der Rezensenten ein Problem darin gesehen, daß diese Tatsache auffallend schlecht zu allem übrigen paßt, was wir über die nationalsozialistische Herrschaft wissen: Daß Menschen zum Tode verurteilt wurden, weil sie eine Tafel Schokolade geklaut hatten. Daß Soldaten an den nächsten Baum oder Laternenpfahl gehängt wurden, weil sie aus der Kampfzone abgehauen waren oder weil sie vielleicht nur unter nicht einwandfrei zu klärenden Umständen den Anschluß an ihre Einheit verloren hatten. Daß Menschen im KZ verschwanden, weil sie den falschen Nachbarn weitererzählt hatten, was gestern von BBC berichtet worden war. Nein, das war im Allgemeinen wahrhaftig kein System, wo der Einzelne sich frei und unbedroht entscheiden konnte, ob er sich an Befehle und Vorschriften halten wollte, und wo ein Befehlsverweigerer sogar noch mit "verständnisvoller Menschenführung" rechnen konnte.

Für einen Händedruck ins KZ

Gerade wenn es um "die Judenfrage" ging, war der nationalsozialistische Staat im Allgemeinen alles andere als liberal gegenüber seinen Untertanen. Ein Beispiel: Im besetzten Polen, dem sogenannten Generalgouvernement, wurde 1942 ein deutscher Beamter namens Szepessy verhaftet. Worin bestand Seine schwere Verfehlung? Er hatte - wahrscheinlich sogar völlig ordnungsgemäß - einer Anzahl Juden Bescheinigungen ausgestellt, die sie als arbeitsmäßig unentbehrlich wenigstens für den Moment vor der Deportation bewahrten. Außerdem hatte er, das wurde ihm tatsächlich als besonders belastend vorgeworfen, einem Mitglied des Krakauer Judenrats zum Abschied die Hand gegeben.

Szepessy hatte Protektion an höchster Stelle. Der Chef des Generalgouvernements, Frank, setzte sich in scharfer Form für ihn ein, sprach von einer "Rechtsvernichtung schlimmster Art" und bestätigte, daß der Beamte bei der Ausstellung der Arbeitsbescheinigungen "im Rahmen seiner Amtspflichten gehandelt" habe. Nicht einmal das half dem Szepessy. Auf Befehl Himmlers wurde er in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. (3)

Ein zweites Beispiel. Raul Hilberg hat es seinem Buch über die Funktion der Reichsbahn beim Transport der Juden in die Vernichtungslager vorangestellt. Auf einer Station im besetzten Polen hatte ein Mädchen aus einem dort haltenden Deportationszug einen deutschen Eisenbahner um ein bißchen Trinkwasser gebeten. Der Beamte kam diesem Wunsch nach. Daraufhin erschien wutentbrannt der Transportführer, ein SS-Mann, und schlug mit der Reitpeitsche auf das Kind ein. Als der Vater des Mädchens auf Knien darum flehte, Seine Tochter zu schonen, erschoß ihn der SS-Mann mit der Pistole. Den Eisenbahner beschimpfte er als "Judenknecht", der nicht würdig sei, deutscher Beamter zu sein. Die Angelegenheit werde noch Folgen für ihn haben. Ob der SS-Transportführer diese Drohung wahr machen konnte, geht aus dem Bericht nicht hervor. (4)

Ich habe diese zwei Beispiele erwähnt, weil sie das unzutreffende Bild liberaler Kameraderie und freundschaftlichen Gewährenlassens korrigieren, das sich an einigen Stellen des Goldhagen-Buches und bei manchen der ihm besonders gewogenen Rezensenten einzuschleichen droht. (5)

Am 24. Oktober 1941 - also zu Beginn der Deportationen aus Deutschland "nach dem Osten", meist in die Vernichtungslager - wurde durch Erlaß des Reichssicherheitshauptamts jede menschliche oder gar freundliche Geste gegenüber einem Juden unter Strafe gestellt. Als Minimum drohte Schutzhaft, in "schwerwiegenden Fällen" Einweisung in ein Konzentrationslager für die Dauer von drei Monaten. Dazu ist anzumerken, daß die dort Inhaftierten in der Regel schwer mißhandelt, viele zu Tode oder zu Krüppeln geprügelt wurden, und daß es im Laufe der Kriegsjahre immer üblicher wurde, einmal dorthin Geschaffte nie wieder in die Freiheit zu entlassen. Im "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren" - heute Tschechien - reichte es auf Befehl Heydrichs für die Einlieferung ins KZ schon aus, sich zusammen mit einem Juden in der Öffentlichkeit zu zeigen, also beispielsweise gemeinsam ein Stück Weg zu gehen.

Eine nicht erklärte Ausnahme

Aber man durfte sich ungestraft und unbedroht weigern, Juden zu töten? Auch dieses Bild müßte man geraderücken. Ein Recht zur Befehlsverweigerung gab es im NS-Staat, zumal während des Krieges, selbstverständlich nicht. Wer einen Befehl verweigerte, hatte in der Regel mit Repressalien zu rechnen, die bis zur standrechtlichen Hinrichtung gehen konnten. Es handelte sich in den Fällen, auf die sich Goldhagen bezieht, nicht um Befehlsverweigerung, sondern darum, daß offenbar die meisten Kommandanten von Mordaktionen es ihren Leuten von sich aus ausdrücklich freistellten, ob sie sich an den Erschießungen beteiligen oder sich lieber auf einen anderen Posten versetzen lassen wollten. Zweifellos müssen diese Kommandanten dafür die eindeutige Rückendeckung der allerhöchsten Verantwortlichen, also insbesondere Himmlers, gehabt haben - sofern es wirklich zutrifft, daß es sich nicht um ein individuelles, sondern um ein allgemein praktiziertes Verhalten gehandelt hat.

Offenbar gewährte man ausgerechnet auf diesem einen Gebiet, dem der "Judenvernichtung", dem Einzelnen eine weitgehende persönliche Entscheidungsfreiheit, die in allen anderen für wirklich wichtig gehaltenen Bereichen von vornherein nicht existierte. Es gibt dafür wohl nur eine plausible, logische Erklärung: Juden ohne Unterschied von Alter, Geschlecht und Person zu töten, galt im nationalsozialistischen Staat nicht wirklich als so absolut "moralisch geboten" und selbstverständlich, daß es jedem Staatsbürger als unausweichliche Pflicht befohlen und zugemutet werden konnte. Es wurde bis hinauf zu Himmler akzeptiert, daß es Motive dafür geben konnte, an dem Morden nicht teilzunehmen, ohne daß der Betreffende deswegen automatisch als Staatsfeind oder auch nur als minderwertig galt.

Bedenkt man, daß in Ideologie, Politik und Praxis des Nationalsozialismus "die Juden" kollektiv als Hauptfeind verteufelt wurden und daß ihre physische Vernichtung zumindest seit Kriegsbeginn ein zentrales Ziel der maßgeblichen Parteiführer war, so stellt die eingeräumte beispiellose Entscheidungs- und Gewissensfreiheit ausgerechnet auf diesem einen Gebiet jedenfalls ein zu untersuchendes und zu erörterndes Problem dar.

Daniel Goldhagen scheint es nicht einmal bemerkt zu haben. Er macht sich die Sache denkbar einfach: Die große Mehrheit der Deutschen sei sich im "exterminationistischen" Antisemitismus mit ihren nationalsozialistischen Führern in geradezu plebiszitärer und osmotischer Weise einig gewesen.

Den zahlreichen Beispielen, die sich tatsächlich für diese These anführen lassen, steht jedoch ein gewichtiger Einwand entgegen: Die Verheimlichung der "Judenvernichtung", ihre sorgsam gewahrte, durch eine verbindliche Sprachregelung vereinheitlichte Umschreibung selbst im internen Schriftverkehr der NS-Bürokratie. Die Leiter der Vernichtungslager wurden mit hohen militärischen Orden ausgezeichnet, als hätten sie Heldentaten im Kampf gegen den Feind vollbracht, aber jede öffentliche Ehrung blieb ihnen versagt.

Taten, auf die man wirklich stolz ist, werden in einem totalitären Staat, und erst recht während eines Krieges, üblicherweise propagandistisch groß herausgestellt. Aber über den Mord an den Juden auch nur im privaten Kreis zu sprechen, galt je nach Kontext als Dienstvergehen oder als Verbrechen. Warum? Weil das NS-Regime die internationale Ächtung fürchtete? Aber spätestens seit Dezember 1942 war man in Ausland hinreichend genau und definitiv über den Zweck der Deportationen und die Existenz der Vernichtungslager informiert.

Keine Bronzetafeln versenkt

Himmler, der oberste Verantwortliche für die Durchführung der "Judenvernichtung", sagte 1944 in einer Rede: "Es war die furchtbarste Aufgabe und der furchtbarste Auftrag, den eine Organisation bekommen konnte: der Auftrag, die Judenfrage zu lösen." (6) - In einer anderen Ansprache warb er persönlich um Verständnis: "Sie mögen mir nachfühlen, wie schwer die Erfüllung dieses mir gegebenen soldatischen Befehls war, den ich befolgt und durchgeführt habe aus Gehorsam und aus vollster Überzeugung." (7) - Vor Generalen der Wehrmacht sagte er Anfang 1944: "Als mir der Führer den Befehl gab, die totale Lösung der Judenfrage durchzuführen, zögerte ich zunächst, ob ich meinen braven SS-Männern die Durchführung einer so furchtbaren Aufgabe zumuten könnte. (...) Aber es handelte sich schließlich um einen Führerbefehl und dagegen durfte es keine Bedenken geben." (8)

Bei einer weiteren Gelegenheit bekundete Himmler, "die Judenfrage" sei "die schwerste Frage meines Lebens geworden". Nachdem er seinen Zuhörern die Notwendigkeit des Mordes an Frauen und Kindern erläutert hatte, beendete der Reichsführer der SS diese Rede mit den Worten: "Sie wissen nun Bescheid, und Sie behalten es für sich. Man wird vielleicht in ganz später Zeit sich einmal überlegen können, ob man dem deutschen Volke etwas mehr darüber sagt. Ich glaube, es ist besser, wir - wir insgesamt - haben das für unser Volk getragen, haben die Verantwortung auf uns genommen (die Verantwortung für eine Tat, nicht nur für eine Idee) und nehmen dann das Geheimnis mit in unser Grab." (9)

Kurt Gerstein - einer der ersten, die Berichte über die Existenz der Gaskammer ins Ausland zu vermitteln versuchten - schilderte folgende Begebenheit: Hitler und Himmler hätten Mitte August 1942 Globocnik, den Organisator der "Judenvernichtung" im besetzten Polen, in Lublin besucht. Ein Funktionär aus der Begleitung Hitlers habe gefragt: "Herr Globocnik, halten Sie es für gut und richtig, die ganzen Leichen zu vergraben, anstatt sie zu verbrennen? Nach uns könnte eine Generation kommen, die das Ganze nicht versteht!" - Globocnik habe geantwortet: "Meine Herren, wenn je nach uns eine Generation kommen sollte, die so schlapp und so knochenweich ist, daß sie unsere große Aufgabe nicht versteht, dann allerdings ist der ganze Nationalsozialismus umsonst gewesen. Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß man Bronzetafeln versenken sollte, auf denen festgehalten ist, daß wir den Mut gehabt haben, dieses große und so notwendige Werk durchzuführen." - Darauf habe Hitler gesagt: "Gut, Globocnik, das ist allerdings auch meine Ansicht!" (10)

Die Episode ist meines Wissens nicht aus anderen Quellen nachgewiesen. Tatsache ist, daß keine Bronzetafeln versenkt wurden und daß Hitler sich bis zu seinem Tod nicht öffentlich und explizit zu dem schändlichen "Mut" bekannt hat, den historisch beispiellosen millionenfachen Mord an Frauen, Männern und Kindern befohlen zu haben, denen nichts weiter vorgeworfen wurde als ihr Jüdischsein.

Es gibt Dutzende von Reden, Artikeln und Aufzeichnungen, aus denen eindeutig hervorgeht, daß die nationalsozialistischen Führer keineswegs davon ausgingen, sich mit dem Massenmord an den Juden auf der sicheren Basis eines allgemeinen Volkskonsenses zu befinden. Frank, Generalgouverneur im besetzten Polen, baute in vielen Ansprachen Seitenhiebe gegen humanitär begründete Kritik aus den eigenen Reihen an der Härte der antijüdischen Maßnahmen ein. Goebbels machte auf zahlreichen Seiten seines Tagebuchs und in den Arbeitsbesprechungen des Propagandaministeriums seinem Ärger über "intellektuelle und bürgerliche Kreise" Luft, die immer noch Mitleid mit den Juden zeigten, und hielt deshalb immer wieder antisemitische Propagandakampagnen für erforderlich. (11) Himmler empfand offensichtlich selbst vor SS-Offizieren eine unwiderstehliche Notwendigkeit, Seine Entscheidung zur Ermordung von Frauen und Kindern mehrmals umständlich zu rechtfertigen.

Die mit dem Massenmord unmittelbar befaßten Funktionäre gingen - zahlreiche Briefe und Anordnungen beweisen es - ganz selbstverständlich davon aus, daß etliche deutsche Unternehmer jüdische Arbeiterinnen und Arbeiter gelegentlich auch deshalb als unentbehrlich reklamierten, um sie vor der "Evakuierung nach Osten", das heißt vor den Vernichtungslagern, zu bewahren. Oskar Schindler ist in diesem Zusammenhang zu posthumem Filmruhm gelangt. Weniger breit bekannt sind die analogen Aktivitäten des langjährigen Krupp-Managers Berthold Beitz, für die er 1973 in Israel mit dem Titel eines "Gerechten unter den Völkern" (d.h. eines nichtjüdischen Juden-Retters) geehrt wurde. Als im März 1943 die in Berliner Rüstungsbetrieben arbeitenden Juden deportiert werden sollten, vermerkte Goebbels wütend in seinem Tagebuch, die Aktion habe sich "infolge des kurzsichtigen Verhaltens von Industriellen, die die Juden rechtzeitig warnten, als Schlag ins Wasser herausgestellt"; dadurch seien 4.000 Menschen vorerst der Festnahme und dem Abtransport nach Auschwitz entgangen. (12)

Quellen ignoriert

Die These Goldhagens, im Grunde seien sich doch fast alle Deutschen darüber einig gewesen, so viele Juden wie möglich umzubringen, entsprach offensichtlich nicht der Wahrnehmung der Leute, die damals Macht ausübten und die die Möglichkeit hatten, sich regelmäßig und sehr fundiert über die Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung informieren zu lassen. Nichts in Goldhagens Buch deutet allerdings darauf hin, daß er sich mit den dazu aussagekräftigen Quellen - wie den Tagebüchern, Konferenzen, Reden und Artikeln von Goebbels - überhaupt befaßt hat. Auch die SD-Berichte hat Goldhagen offenbar weder selbst ausgewertet noch die bereits vorliegenden Auswertungen durch andere Autoren angemessen berücksichtigt.

Für die These Goldhagens, die große Mehrheit der Deutschen habe mit dem "exterminationistischen" Antisemitismus der Nationalsozialisten, also mit dem Massenmord an den Juden, übereingestimmt, fehlen die empirischen Anhaltspunkte. Statt dessen beweist Goldhagen lediglich, was vernünftigerweise überhaupt nicht zu bestreiten ist: daß breite Teile der deutschen Gesellschaft schon vor der nationalsozialistischen Diktatur von antisemitischen Einstellungen geprägt waren und daß sie bereit waren, diskriminierende und repressive Maßnahmen gegen die Juden mitzutragen, oder daß sie sogar aktiv solche Maßnahmen forderten.

Gewiß ist es interessant und auch erschreckend, wie weitgehend antijüdische Ressentiments sogar bei Personen vorhanden waren, bei denen man sie nicht unbedingt erwartet hätte, wie etwa Thomas Mann oder Martin Niemöller. Aber für die Frage, um die es hier geht, beweist das gar nichts. Denn niemand wird behaupten wollen, Mann oder Niemöller hätten irgendwann und auch nur der Tendenz nach den Mord an den Juden für berechtigt oder notwendig gehalten. Allgemein gesprochen waren antisemitische Einstellungen zweifellos sehr viel weiter verbreitet als die Überzeugung, man müsse und dürfe sämtliche erreichbaren Juden ohne Unterschied der Person, des Alters und des Geschlechts umbringen.

Niemand, auch Goldhagen nicht, behauptet ernsthaft, "die Deutschen" bzw. der unter 40 Prozent liegende Bevölkerungsteil, der Hitler 1932/33 zur Macht verhalf, hätten damit ein Mandat zur Ermordung der Juden erteilen wollen. Goldhagen selbst schreibt, es sei nicht feststellbar, welchen Anteil überhaupt "die Judenfrage" 1932/33 an der Entscheidung von Millionen Deutschen zugunsten der NSDAP gehabt hat. In der Propaganda und Agitation der Partei in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren standen eindeutig andere Themen im Vordergrund.

Selbst wenn man unterstellen würde, daß alle Deutschen, die 1932/33 für die NSDAP votierten, auch die Programmziele der Partei zur "Judenfrage" unterstützten - die auf den Ausschluß der Juden aus der deutschen Gesellschaft und damit letztlich auch auf ihre Vertreibung hinausliefen -, so wäre es von diesem Punkt bis zum Holocaust immer noch ein erklärungsbedürftiger Entwicklungsweg. Goldhagen aber bewegt sich in seiner Argumentation so flink und problemlos zwischen Antisemitismus als solchem, "eliminationistischem" Antisemitismus (Ausschluß aus der Gesellschaft, Vertreibung) und "exterminationistischem" Antisemitismus (Vernichtung) hin und her, als gäbe es dazwischen kaum nennenswerte Unterschiede. So stellt er sich weder die Aufgabe, Entwicklungen zu untersuchen, noch Vergleiche zwischen dem Antisemitismus und seinen Konsequenzen in verschiedenen europäischen Ländern anzustellen.

"Big Show" und "Side Show"

Rainer C. Baum hat in einem 1981 erschienenen Buch, "The Holocaust and the German Elite", ein Modell vorgeschlagen, das mir weitgehend plausibel erscheint. Danach gab es für die Masse der Nazi-Unterstützer und -Anhänger eine "big show", in Relation zu der die Behandlung der Juden als "side show" betrachtet wurde. "Big show" war vor allem das deutsche Streben nach Hegemonie über Europa, territorialer Expansion, Weltmachtgeltung, auch die Erreichung individueller wirtschaftlicher und sozialer Interessen. Andere Themen waren, in unterschiedlichem Maß, "side show", Nebenbühne, Nebenschauplatz. Mit dem, was dort geschah, mußte man sich nicht notwendigerweise vollständig identifizieren.

Die "Judenfrage" war für große Teile der deutschen Bevölkerung in besonderer Weise ein Nebenschauplatz in diesem Sinn. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, daß in Deutschland gleichfalls keine Stimme des Protestes zu vernehmen war, als Tausende von Arbeiterfunktionären in Konzentrationslagern geschunden wurden, obwohl die Arbeiterparteien im Volk bis 1933 zahlenmäßig vermutlich stärker verwurzelt gewesen waren als die NSDAP. Das zeigt, daß nicht unbedingt ein tief in der deutschen Tradition wurzelndes persönliches Ressentiment gegen die Opfer erforderlich war, um die Leute zum Schweigen gegenüber dem, was anderen angetan wurde, zu veranlassen.

Die Interpretation Baums ist selbstverständlich nicht so zu verstehen, daß die Mehrheit der Menschen tatsächlich (wenn auch stillschweigend) mißbilligte, was auf den "Nebenschauplätzen" geschah. Wieweit das jeweils der Fall war, kann nicht deduktiv erschlossen werden, sondern muß, soweit überhaupt möglich, anhand des vorliegenden Materials rekonstruiert werden. Zumindest bis zum Novemberpogrom von 1938 hatte die NSDAP für ihre "Judenpolitik" im großen und ganzen vermutlich eine Bevölkerungsmehrheit auf ihrer Seite. Die Reaktionen auf das Pogrom und später auf die Kennzeichnung der Juden mit dem Stern ließen aber erkennen, daß viele Deutsche, auch Anhänger des Nationalsozialismus und Mitglieder der NSDAP, von sich aus weder Gewaltanwendung noch persönlich entwürdigende Behandlung der Juden wollten. Sie hörten deshalb nicht notwendigerweise auf, "die Judenfrage" in antisemitischen Kategorien zu sehen, das Regime zu unterstützen, vielleicht sogar ihre Rolle im Prozeß des Völkermords an den Juden weiter auszufüllen.

Eine vermutlich typische Figur in diesem Sinne war Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt bis zum April 1943, dann auf eigenen Wunsch als Botschafter beim Vatikan nach Rom versetzt. Weizsäcker gab 1942 außenpolitisch grünes Licht für den Beginn der Juden-Deportationen aus Frankreich. Ebenfalls 1942 setzte er sich (zum damaligen Zeitpunkt vergeblich) bei der ungarischen Regierung dafür ein, die Juden ihres Landes ebenfalls zur "Evakuierung nach Osten", d.h. in die Vernichtungslager, freizugeben. Daß er sich in hohem Maß schuldig gemacht hat, kann vernünftiger- und gerechterweise eigentlich nicht bezweifelt werden (14). Ebenso kann nicht strittig sein, daß er voller antisemitischer Ressentiments war und eine Beschränkung des seiner Ansicht nach in der Weimarer Republik viel zu groß gewordenen jüdischen Einflusses für notwendig hielt. Aber die Annahme, er sei mit dem Massenmord an den Juden aus eigenem Wollen einverstanden gewesen, kann man nach allem, was wir wissen, mit größter Wahrscheinlichkeit ausschließen. Und gewiß stand er mit dieser Haltung im Apparat des nationalsozialistischen Staates nicht allein.

Ginge es nur um die Vergabe moralischer Bewertungen, könnte ich Goldhagen ohne weiteres zustimmen, daß es auf solche Differenzierungen, wie ich sie eben vorgenommen habe, überhaupt nicht ankommt. Menschen wie Ernst von Weizsäcker haben den Holocaust durchführbar gemacht, und sie haben es, auch daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen, vielleicht im Einzelfall ungern, aber jedenfalls freiwillig getan.

Das Buch von Daniel Goldhagen stellt sich aber dem Anspruch nach die Aufgabe, schlüssig erklären zu wollen, was die direkten und indirekten Tatbeteiligten, und darüber hinaus die große Mehrheit des deutschen Volkes, veranlaßt hat, sich so zu verhalten wie sie es taten. Das ist, wenn man sich mit den Voraussetzungen des Holocaust beschäftigt, in der Tat eine wesentliche Frage - und insofern kommt es auf die Differenzierungen dann doch an.

Mit seiner Behauptung, nahezu das ganze deutsche Volk hätte die "Ausrottung" der Juden gewollt, hat Goldhagen eine Problemlösung in der Art des berühmten Schwerthiebs durch den Gordischen Knoten angeboten. Was wir über die Tatsachen wissen, spricht jedoch dafür, daß viele mitgemacht haben, ohne die Tat zu wollen, aber daß sie dennoch freiwillig mitgemacht haben. Dieser Sachverhalt ist sehr viel schwerer zu erklären. Übrigens taugt er nicht zur moralischen Entlastung.

Knut Mellenthin

ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 401 / 10.04.1997


Anmerkungen:

1) Gespräch zwischen Daniel Goldhagen und Josef Joffe in den "Blättern für deutsche und internationale Politik", Nr. 10/96, S. 1193 und S. 1194.

2) Götz Aly: Rezension des Goldhagen-Buches in "Mittelweg 36", Dez. 1996/Jan. 1997, S. 47.

3) Werner Präg und Wolfgang Jacobmeyer (Hrg.): Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen (DTB), Stuttgart 1975, S. 566-567 und 577-578.

4) Raul Hilberg: Sonderzüge nach Auschwitz, Mainz 1981, S. 11.

5) Goldhagen behauptet auch, der Grad der Einschüchterung "normaler Deutscher" während der Nazi-Zeit werde meist übertrieben dargestellt; tatsächlich habe sogar ein erhebliches Maß an Freiheit und Pluralismus bestanden. (S. 479 und 508 der amerikanischen Ausgabe)

6) Rede am 21. Juni 1944 in Sonthofen vor Generalen der Wehrmacht.

7) Rede am 5. Mai 1944 in Sonthofen vor Generalen der Wehrmacht.

8) Rede am 26. Januar 1944 in Posen vor Generalen der Wehrmacht.

9) Rede am 6. Oktober 1943 in Posen vor Reichs- und Gauleitern.

10) Gersteins Bericht ist dokumentiert bei Léon Poliakov und Josef Wulf: Das Dritte Reich und die Juden, München 1978, S. 104-105)

11) Beispielsweise nach Verhängung der Kennzeichnungspflicht und dem Beginn der Deportationen aus Deutschland. "Im übrigen ordne ich an, daß nun wieder eine stärkere Propaganda in der Judenfrage einsetzt. (...) Unsere intellektuellen und gesellschaftlichen Schichten haben plötzlich wieder ihr Humanitätsgefühl für die armen Juden entdeckt. (Goebbels Tagebücher, 28.10.41)

12) Goebbels Tagebücher, 11.3.43

13) Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß David Bankiers wichtige Arbeit "The Germans and The Final Solution: Public Opinion Under Nazism" (1992) ein Jahr vor Goldhagens Buch in deutscher Übersetzung erschienen ist, ohne von der deutschen Öffentlichkeit überhaupt bemerkt zu werden. (Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die "Endlösung" und die Deutschen) - Bankier hat insbesondere die verschiedenen Berichte über die Stimmung der Bevölkerung von SD, Gestapo und Parteistellen, auch auf Ortsebene, umfassend analysiert.

14) Tatsächlich fanden es jedoch viele Autoren richtig, Ernst von Weizsäcker gegen Kritik umfassend in Schutz zu nehmen. Siehe dazu meinen Artikel in AK 284 (29.6.87).


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