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"Komplizen der Mörder"?

"Komplizen der Mörder"?

Hätten mehr Juden vor dem Holocaust gerettet werden können?

Im vergangenen Jahr 1997 ist in Großbritannien, den USA und Kanada ein Buch erschienen, mit dem eine Frage noch einmal aufgerollt werden soll, die bereits spätestens Mitte der 80er Jahre definitiv geklärt schien: Hat die ganze Welt die Juden angesichts des Völkermords durch die Deutschen in Stich gelassen? Wurden aus Gleichgültigkeit, aus politischem Opportunismus oder sogar aus antisemitischer Feindseligkeit gegen die Opfer realistische Möglichkeiten verpaßt, zehntausende oder hunderttausende Menschen zu retten? Die Bejahung dieser Fragen hat sich eindeutig die politische Meinungsführerschaft gewonnen - vielleicht nicht hundertprozentig unumstritten unter den Historikern, aber absolut eindeutig im öffentlichen Bewußtsein.

William D. Rubinstein versucht jetzt in seinem Buch "The Myth of Rescue" (Der Mythos der Rettung) zu beweisen, daß die allgemeine Meinung dennoch von falschen Voraussetzungen ausgeht und in ihren Schlußfolgerungen irrt. Worum es geht, kündigt gleich der apodiktisch zugespitzte und stark vereinfachte Untertitel an: "Why the democracies could not have saved more Jews from the Nazis". Soll heißen, die demokratischen Staaten der Anti-Hitler-Front hätten unter gar keinen Umständen und auf keine Weise mehr Juden retten können als tatsächlich überlebten.

Mir scheint, daß Rubinstein Seine zentralen Thesen über das Maß des Zweckmäßigen und Zulässigen hinaus zugespitzt und vereinfacht hat - vielleicht in der Hoffnung, auf diese Weise besser wahrgenommen zu werden. Ob dem Historiker, der in den USA geboren wurde und dort aufwuchs, dann lange in Australien lebte und arbeitete, jetzt Professor an der Waliser Universität Aberystwyth ist, und der bisher noch nicht als Autor zum Holocaust in Erscheinung getreten war, inzwischen für sein Buch im englischen Sprachgebiet der Erfolg einer öffentlichen Aufmerksamkeit beschieden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Die umfangreichen Fakten und bedenkenswerten Argumente, die er gegen die vorherrschenden Thesen anführt, sollten jedenfalls trotz erheblicher Schwächen des Buches zur Kenntnis genommen werden.

Wer war schuld?

Der Vorwurf, die ganze Welt sei für den deutschen Völkermord an den Juden mitverantwortlich, ist nicht neu. Er tauchte schon während des Krieges auf. Als Szmul Zygielboim, jüdisches Mitglied der polnischen Exilregierung in London, am 12. Mai 1943 seinem Leben selbst ein Ende setzte, hinterließ er ein bitteres Schreiben, in dem es hieß: "Die Verantwortung für die Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung Polens liegt vor allem bei den Mördern selbst, aber indirekt fällt sie auch der gesamten Menschheit zu, der Bevölkerung und den Regierungen, die bislang keine entschlossenen Schritte getan haben, um diesen Verbrechen Einhalt zu gebieten. Durch ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Tötung wehrloser Millionen und der Mißhandlung von Kindern, Frauen und alten Menschen sind diese Länder zu Komplizen der Mörder geworden."

1968 erschienen in den USA die ersten Bücher, die sich mit diesem Thema beschäftigten: "While Six Million Died. A Chronicle of American Apathy" von Arthur Morse und "Paper Walls. America and the Refugee Crisis. 1938-1941" von David S. Wyman. Warum wurde das Thema erst mehr als 20 Jahre nach Kriegsende von den Historikern aufgegriffen? Sicher nicht zuletzt deshalb, weil die entscheidenden amerikanischen Aktenbestände erst seit 1965 für die Forschung zugänglich waren.

Es folgten 1970 von Henry L. Feingold "The Politics of Rescue. The Roosevelt Administration and the Holocaust" und 1973 von Saul S. Friedman "No Haven for the Oppressed. United States Policy Toward Jewish Refugees 1938-45". Bernard Wasserstein kritisierte in "Britain and the Jews of Europe 1939-1945" (1979) in analoger Weise die Politik Großbritanniens. Walter Laqueur erhob in "The Terrible Secret" (1980) den Vorwurf, die Alliierten hätten Informationen über den Massenmord an den Juden bewußt unterdrückt oder zumindest nicht angemessen publik gemacht. Martin Gilbert beschäftigte sich in seinem Buch "Auschwitz and the Allies" (1981) ausführlich mit der Frage, welche Möglichkeiten bestanden hätten, die Vernichtungsanlagen in Auschwitz durch Bombenangriffe zu zerstören, und warum diese Option nicht wahrgenommen wurde. Zu diesem Thema hatte Wyman schon 1978 einen Aufsatz in der jüdisch-amerikanischen Zeitschrift "Commentary" veröffentlicht. 1983 kam Monty Penkowers "The Jews Were Expendable. Free World Diplomacy and the Holocaust". Das 1984 erschienene zweite Buch von Wyman, "The Abandonment of the Jews. America and the Holocaust", untersuchte die amerikanische Politik in den Jahren 1942-44. In Deutschland kam es 1986 unter dem Titel "Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden" auf den Markt.

Die Kritik richtete sich, wie schon aus der Aufreihung der Buchtitel erkennbar wird, in der Hauptsache gegen die USA. Sie zielte damit letzten Endes auf die moralische Demontage der Politik Roosevelts, der zu seiner Zeit die große Mehrheit der amerikanischen Juden hinter sich hatte wie vor ihm kein einziger und nach ihm kaum ein anderer Präsident.

Selbstverständlich war diese Kritik an den USA und an der nichtjüdischen Welt insgesamt - unabhängig von der Frage ihrer sachlichen Berechtigung - politisch instrumentalisierbar. Schließlich war und ist die These, daß im Grunde alle nichtjüdischen Völker antisemitisch bestimmt sind und daß die Juden sich immer nur auf sich selbst verlassen können, die zentrale Voraussetzung des Zionismus und des Staates Israel. Vor allem in der Argumentation Menachem Begins hieß das auch: Niemand habe das Recht, Israels Politik gegenüber den Palästinensern zu kritisieren. Schließlich habe die ganze Welt damals die Juden in Stich gelassen und müsse es ihnen heute selbst überlassen, wie sie sich verteidigen.

Bei dieser vergleichsweise unkomplizierten Problemstellung blieb es jedoch nicht, und konnte es nach Lage der historischen Fakten auch nicht bleiben. Zu recht bemerkte Lloyd P. Gartner schon 1969 in seiner Rezension des Morse-Buchs für das "American Jewish Historical Quarterly": Während der Roosevelt-Ära seien mehr Juden in einflußreichen Positionen gewesen als unter irgendeiner früheren Regierung. Was aber hätten diese Leute angesichts der Notlage der europäischen Juden getan? Man komme kaum an der Schlußfolgerung vorbei, daß Roosevelts Nichthandeln auch mit der Tatsache zusammenhänge, daß von den führenden jüdischen Vertretern kein entsprechender Druck ausgeübt wurde.

Bald wurde das Thema von rechtszionistischer Seite aufgegriffen, um dem damaligen, sozialdemokratisch und sozialliberal geprägten Mainstream des Zionismus vorzuwerfen, er habe seinerseits (aus Opportunismus gegenüber Roosevelt, aus einer defensiven Haltung zum Antisemitismus der amerikanischen Gesellschaft oder warum auch immer) angesichts des Holocaust versagt. Leon Weliczker Wells, selbst ein Holocaust-Überlebender (als einziger aus seiner Familie), richtete mit seinem Buch "Und sie machten Politik" (1989) gegen die amerikanischen Zionisten insgesamt den Vorwurf, sie seien über den deutschen Massenmord an den Juden hinweg zur Tagesordnung übergegangen, d.h. zu der sie hauptsächlich interessierenden Frage der Staatsgründung Israels. Auch für diese bittere These lassen sich übrigens einige Fakten und Zitate beibringen. Der israelische Historiker Tom Segev kam in "The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust" (1993; deutsch 1995) zu einer ähnlichen Aussage für die maßgeblichen zionistischen Politiker im damaligen Palästina. Er konstatierte aber, anders als Wells, ganz klar, daß die zionistische Bewegung keine Möglichkeit gehabt habe, den Juden in Europa zur Hilfe zu kommen.

"Jetzt muß gehandelt werden!"

Daß der Vorwurf, die europäischen Juden in Stich gelassen zu haben, sich auch als Streit quer durch das politische Spektrum des Zionismus zieht, ist keineswegs nur ein Phänomen der Geschichtsbetrachtung. Dieser Konflikt wurde, vor allem in den USA, bereits während des Krieges mit großer Schärfe ausgetragen.

Die sog. Bergson-Gruppe, die sich damals in den USA am aktivsten und lautstärksten für Hilfsaktionen jedweder Art aussprach und heftige Vorwürfe gegen die Roosevelt-Regierung (wie auch gegen das jüdische Establishment) richtete, wurde unmittelbar von der rechtszionistischen, extrem nationalistischen Organisation Irgun - der Partei Begins und Shamirs - durch Emissäre aus Palästina gegründet und gelenkt. Gestärkt durch populäre Autoren und Filmschauspieler entfaltete diese Gruppe mit werbemäßig durchgestylten ganzseitigen Zeitungsanzeigen, dramatischen Shows und spektakulären Aktionen (wie dem Protestmarsch von 400 Rabbis zum Weißen Haus am 6. Oktober 1943) eine äußerst effektvolle Agitation. Sie fand wichtige Bündnispartner auch unter Nichtjuden, u.a. prominente Kirchenvertreter, Zeitungsverleger und Politiker.

Der sozialliberale Mainstream des amerikanischen Zionismus sah diese Aktivitäten aus mehreren Gründen sehr ungern und hintertrieb sie mit allen verfügbaren Mitteln, bis hin zur Druckausübung auf einzelne prominente UnterstützerInnen der Bergson-Gruppe und dem Versuch, Aktionen auf administrativem Weg blockieren zu lassen.

Zu den Gründen, die hier nur kurz angedeutet werden können, gehörte die natürliche Konkurrenz-Situation zwischen zwei verfeindeten politischen Richtungen. Zu bedenken ist dabei, daß dies nicht lediglich ein Konflikt innerhalb der USA war, sondern daß es dabei in erster Linie um die Hegemonie in Palästina und die dort einzuschlagende praktische Politik auf dem Weg zur Unabhängigkeit ging.

Ein weiterer Grund wird allgemein darin gesehen, daß die Mainstream-Zionisten fürchteten, eine PR-starke, auf die europäischen Juden zentrierte Agitation könnte den Antisemitismus fördern. Bedenkt man andererseits die starke Unterstützung, die die Bergson-Gruppe gerade auch von nichtjüdischer Seite erfuhr (u.a. durch die eher rechts orientierte Hearst-Massenpresse), könnte man am Sinn und sogar an der Aufrichtigkeit dieses Arguments zweifeln.

Ganz sicher waren die Mainstream-Zionisten davon überzeugt, daß ihre kontinuierliche, unspektakuläre Art der Politik, in starker Annäherung an die Roosevelt-Administration, praktisch sehr viel wirkungsvoller sei als die Agitation der Bergson-Gruppe, die als nutzlose Schaumschlägerei und teilweise auch als Provokation angesehen wurde.

Ein zusätzlicher Grund lag wohl auch in einigen der nichtjüdischen Bündnispartner, die sich um das Lager der Bergson-Gruppe versammelte. Es handelte sich dabei um bekannte Gegner Roosevelts aus der politischen Rechten, deren Motive nicht völlig frei vom Verdacht waren, sie wollten auf jede Weise dem Präsidenten schaden. Das war selbstverständlich a priori eine Belastung für die langfristig und grundsätzlich angelegte Zusammenarbeit der zionistischen Führung mit der Roosevelt-Administration.

Anfang 1943 tauchte das Gerücht auf, die mit Deutschland verbündete rumänische Regierung sei bereit, 70.000 Juden gegen ein vergleichsweise niedriges Lösegeld (50 Dollar pro Person) ausreisen zu lassen. Die Bergson-Gruppe reagierte mit einer Großanzeige, die am 16. Februar 1943 in der Presse erschien: "Rumänien hat keine Lust mehr, Juden umzubringen. (...) Die Tore Rumäniens stehen offen! Jetzt muß gehandelt werden!" - Falls an dem Gerücht jemals ein wahrer Kern war, so war mit dieser Art von öffentlicher Provokation ganz sicher jede Chance vertan. Viele Handlungen und Forderungen der Bergson-Gruppe zeigen in ähnlicher Weise, daß kaum ein Verständnis für die realen Strukturen im deutschen Machtbereich vorhanden war und daß allzu oft bedenkenlose Effekthascherei im Vordergrund stand.

Vor verschlossenen Türen?

In ihren politischen Auswirkungen hatte die Diskussion um die von der ganzen Welt in Stich gelassenen Juden von vornherein und wohl auch zwangsläufig etwas mißliches. In Deutschland wurden die von den Autoren und ihren Verlagen zahlreich aufgestellten Warnschilder, selbstverständlich solle und dürfe dadurch die deutsche Schuld und Verantwortung nicht relativiert werden, geflissentlich mißachtet. Der Eifer und Umfang, mit dem sich beispielsweise der "Spiegel" im Laufe der Jahre des Themas annahm, ist für diesen Sachverhalt ein ganz guter Indikator.

Das Dilemma ist nicht den Autoren anzulasten, die - wenn auch stellenweise mal polemisch zuspitzend, simplifizierend und übertreibend - überwiegend sachlich orientierte, faktenreiche und wichtige Forschungs- und Diskussionsbeiträge geliefert haben. Das Problem tritt aber auf, sobald sich die breitere Öffentlichkeit und ein nur oberflächlich informiertes Publikum der Sache bemächtigen.

Beispielsweise hat kaum einer der Autoren wirklich behauptet, die demokratischen Regierungen und Gesellschaften hätten "nichts" für die europäischen Juden getan, sondern dem deutschen Völkermord "tatenlos zugesehen". Erhebliche Teile des interessierten Publikums und der journalistischen Zunft lieben aber genau solche schwarz-weißen Sentenzen.

Die meisten Autoren sind auch recht vorsichtig mit der hypothetischen, sich der Beweisbarkeit entziehenden Fragestellung umgegangen, wieviele Juden durch eine andere Politik denn wohl hätten gerettet werden können. Das interessierte Publikum hingegen fängt unterhalb von "mehreren hunderttausend" jüdischen Opfern, deren durchaus mögliche Rettung verpaßt worden sei, gar nicht erst an zu zählen, und selbst an der Millionengrenze macht die tendenziöse Phantasie nicht unbedingt Halt.

Die Vorstellung von jüdischen Flüchtlingen, die verzweifelt Schutz vor dem Zugriff der Deutschen suchen und bei allen Staaten auf verschlossene Türen stoßen, kann wohl als weit verbreitet gelten. Daß schon die NS-Propaganda ausgiebig mit der Behauptung operierte, es wolle ja überhaupt kein Staat die Juden haben, sollte ein Warnzeichen sein, genauer hinzusehen.

Rubinstein behauptet nun, daß 72% der deutschen Juden "entkommen" konnten, bevor 1941 jede Auswanderung verboten wurde. Von den deutsch-jüdischen Kindern und Jugendlichen (bis 24 Jahre) seien es sogar 83% gewesen, die rechtzeitig im Ausland Aufnahme fanden. Ich habe dies mit den vom Autor genannten (allgemein anerkannten) Zahlen nachgerechnet und komme nur auf eine Auswanderungsquote von 53%. Anscheinend hat Rubinstein irrtümlich die "natürliche" Verminderung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland durch den Sterbeüberschuß auf die Zahl der Auswanderer draufaddiert. Auch die Behauptung, daß 83% der Kinder und Jugendlichen emigrieren konnten, ist durch einen evidenten methodischen Fehler überhöht.

Recht hat der Autor, wenn er darauf hinweist, daß keineswegs sämtliche deutschen Juden seit Februar 1938 nur noch nach einer Möglichkeit zur raschesten Emigration gesucht hatten. Aus unterschiedlichen Gründen gab es viele Menschen, die diesen Weg eigentlich nicht unbedingt gehen wollten und die erst durch die Radikalisierung der judenfeindlichen Politik seit Anfang 1938 mit der Aussichtslosigkeit eines weiteren Bleibens konfrontiert waren. 1939 konnten 78.000 Jüdinnen und Juden Deutschland verlassen und im Ausland Aufnahme finden - mehr als dreimal soviel wie im Durchschnitt der Jahre 1934-37.

Unstrittig war die Einwanderungspolitik der USA, Großbritanniens und anderer Staaten bereits seit den 20er Jahren restriktiv, das räumt auch Rubinstein ein. Sie sei aber gerade gegenüber den jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland vergleichsweise liberal, ja großzügig gewesen. Beispielsweise seien rund ein Drittel aller Menschen, die zwischen 1933 und 1941 als Einwanderer in die USA kamen, Juden gewesen, und 1938-1940 sogar mehr als die Hälfte. Dies wäre nicht unwichtig, weil die meisten Kritiker unterstellen, daß Feindseligkeit und Mißtrauen speziell gegen die Juden ein wesentliches Motiv der restriktiven amerikanischen Einwanderungspolitik zwischen 1933 und 1941 gewesen seien.

Rubinstein erinnert ferner daran, daß Deutschland in den 30er Jahren nicht das einzige Land war, das Seine Juden los werden wollte. Vor allem Polen mit etwa 3,3 Millionen jüdischen Einwohnern, aber auch Rumänien und Ungarn mit zusammen ungefähr 1,3 Millionen radikalisierten ihre antijüdischen Maßnahmen und bemühten sich zugleich international ganz stark um Auswanderungsmöglichkeiten. Insofern bestand zwischen Deutschland und anderen antisemitischen Staaten eine scharfe Konkurrenz. Nach dem November-Pogrom 1938 schrieb eine polnische Zeitung, Deutschland habe sich durch sein rücksichtsloses Vorgehen "eine Prämie verschafft", da nun in den USA und England nur noch von der Auswanderung der deutschen Juden - und nicht mehr von den polnischen Juden - gesprochen werde. Rubinstein vermutet, daß eine Politik völlig "offener Türen" seitens der demokratischen Staaten gegenüber Deutschland andere antisemitischen Regierungen möglicherweise dazu ermutigt hätte, ihre jüdischen Bevölkerungen ebenfalls noch stärker zu schikanieren, um den Aufnahmedruck auf die demokratischen Staaten zu erhöhen.

Seit 1941 war eine legale jüdische Emigration aus dem deutschen Machtbereich nicht mehr möglich. Das Hauptproblem bestand also von diesem Zeitpunkt an nicht mehr in einer restriktiven Politik potentieller Aufnahmeländer, sondern darin, daß die Juden in der deutschen Falle saßen und nur noch sehr schmale Fluchtbewegungen möglich waren.

Die Fluchtwege führten vor allem über die Schwarzmeerhäfen von Deutschlands Verbündeten Rumänien und Bulgarien. Wäre Hilfe der Alliierten möglich und zweckmäßig gewesen? Alles spricht gegen diese These. Die Deutschen tolerierten ein geringes, nach Hundertern zählendes Ausmaß der illegalen Emigration, aber sie hätten vermutlich mit der Besetzung Rumäniens und Bulgariens reagiert (so wie im März 1944 in Ungarn), wenn die Alliierten versucht hätten, sich unmittelbar und offen einzumischen. Wenn sie also beispielsweise Schiffe zur Aufnahme größerer Flüchtlingszahlen geschickt hätten. Sowohl in Rumänien wie auch in Bulgarien waren die "einheimischen" Juden vergleichsweise sicher vor dem deutschen Zugriff und haben mehrheitlich den Krieg überlebt. Eine stärker auf Einmischung und Hilfe angelegte Politik der Alliierten hätte dieses Ergebnis möglichweise gefährdet.

Andererseits waren - das kommt bei Rubinstein viel zu kurz - die westlichen Demokratien aber auch tatsächlich nicht interessiert, nennenswerte Mengen von Flüchtlingen aufzunehmen. Das wäre wahrscheinlich auch nicht anders gewesen, falls dafür realistische Chancen bestanden hätten. Daß Hitler ihnen vielleicht Hunderttausende von Menschen "aufladen" könnte, die sie dann ernähren müßten, wirkte auf die Alliierten wie eine Schreckensvision.

Absolut unwahrscheinlich war eine solche Entwicklung nicht: Mindestens zweimal, nämlich während der Belagerung Leningrads (im Herbst/Winter 1941/42) und dann mit Blick auf die noch lebenden Juden im deutschen Machtbereich 1944 tauchten kurzzeitig solche Überlegungen auf deutscher Seite auf. In beiden Fällen ging es vermutlich nicht um ein ernstgemeintes "Angebot", sondern um einen Schein-Vorschlag, in der Erwartung, damit die Alliierten bloßstellen und anschließend das eigene brutale Vorgehen dadurch rechtfertigen zu können.

Warum wurde Auschwitz nicht bombardiert?

Rubinstein hat sämtliche irgendwo geäußerten Ideen, was angeblich "hätte getan werden können", um Druck auf Deutschland auszuüben und um praktische Hilfe für die Juden im deutschen Machtbereich zu organisieren, gesammelt und bewertet. Er verwirft alle diese Vorstellungen als illusionär. Spätestens seit der Hineinziehung der USA in den Krieg (Dezember 1941) habe es es keine zusätzliche Option der Druckausübung gegeben, mit der man die Deutschen noch glaubwürdig und effektiv hätte abschrecken können.

Die Drohung, daß man die Schuldigen am Völkermord hart bestrafen würde - eine Forderung, die in allen "Rettungs"-Katalogen vorkam -, wurde schon 1942 von den alliierten Regierungen mehrmals eindeutig ausgesprochen und war von da an nicht mehr steigerungsfähig. - Gefordert wurden als Vergeltung und Drohung Luftangriffe gegen deutsche Bevölkerungszentren, aber seit die USA und Großbritannien dazu technisch in der Lage waren (Frühjahr 1943), fanden diese ohnehin in maximalem Umfang statt. - Gefordert wurden Repressalien gegen deutsche Kriegsgefangene und Zivilisten im Machtbereich der Alliierten, aber damit wären Gegen-Repressalien riskiert worden, und zumindest bis Mitte 1944 befanden sich mehr alliierte Kriegsgefangene in deutscher Hand als umgekehrt. - Gefordert wurde massiver Druck auf Deutschlands Verbündete, aber dieser setzte ein anderes militärisches Kräfteverhältnis voraus - und wurde dann 1944, vor allem gegenüber Ungarn, tatsächlich mit gewissen Erfolgen praktiziert.

Der Autor weist auch den gängigen Vorwurf zurück, die Alliierten hätten die Vernichtungsanlagen in Auschwitz und die Zufahrtswege bombardieren müssen. Technisch rückte ein solches Unternehmen überhaupt erst im Sommer 1944 in den Bereich des Realisierbaren. Vorher war es auch von niemandem vorgeschlagen bzw. gefordert worden. Erst zu dieser Zeit lagen auch Berichte vor, die die Funktion von Auschwitz als Vernichtungslager deutlich und eindeutig machten.

Um effektiv zu sein, wären mehrfach wiederholte Angriffe größerer Verbände notwendig gewesen. Das offizielle Gegenargument der Politiker und Militärs war, daß eine solche Abzweigung von Kräften für eine "nichtmilitärische" Aufgabe den Kriegsanstrengungen schaden würde. Das ist nicht unbedingt überzeugend. Andererseits wäre die Funktion einer Bombardierung vermutlich im wesentlichen politisch-symbolisch geblieben, weil die deutschen Stellen selbst bei einer (schwer zu bewerkstelligenden) nachhaltigen Totalzerstörung von Auschwitz Alternativmöglichkeiten für eine Fortsetzung des Mordens gehabt hätten.

Auch mit der beliebten Spekulation "was gewesen wäre, wenn es damals schon den Staat Israel gegeben hätte", setzt Rubinstein sich kritisch auseinander. Zigtausende jüdische Flüchtlinge hätten dort Aufnahme und Schutz finden können, haben manche Autoren behauptet, und einige israelische Politiker haben diese These zu eigenem Nutzen aufgegriffen. Rubinstein wendet dagegen zweierlei ein: Erstens gab es damals im zionistischen Spektrum überhaupt niemanden, der für eine Staatsgründung als sofortige Handlungsoption eintrat. Ein entscheidender Grund war, daß die Juden nur eine Minderheit der Bevölkerung Palästinas ohne geschlossenes Territorium waren. Zweitens hätte die Existenz eines jüdischen Staates im Nahen Osten Hitler vermutlich - und mit guten Erfolgsaussichten - veranlaßt, der Zerstörung dieses Staates höchste Priorität einzuräumen und starke deutsche Kräfte auf den nordafrikanischen und nahöstlichen Kriegsschauplatz zu konzentrieren. Außerdem: Die britische Einwanderungspolitik für Palästina war seit dem "Weißbuch" vom Mai 1939 tatsächlich sehr restriktiv. Aber nicht einmal die recht niedrig angesetzte Quote konnte noch voll ausgeschöpft werden, und zwar in erster Linie nicht wegen des blockierenden Verhaltens britischer Stellen, sondern weil nur wenige Tausend Flüchtlinge aus dem deutschen Machtbereich herausgelangen konnten.

Wahrscheinlich hat Rubinstein mit seiner These, daß kaum erheblich mehr Juden durch welche Aktivitäten der Alliierten auch immer hätten gerettet werden können, im wesentlichen Recht. Leider fällt aber bei diesem Ansatz viel berechtigte Kritik, beispielsweise an der Informationspolitik der demokratischen Staaten und ihrer Presse, unter den Tisch. Daß es, aus unterschiedlichen Gründen, erhebliche antijüdische Vorbehalte bei manchen Politikern und Beamten der Alliierten gab - Wyman und andere Autoren haben das dargestellt - bleibt auch dann Tatsache, wenn man nicht unbedingt unterstellt, sie hätten dadurch die Chance zur Rettung von Hunderttausenden verpaßt.

Knut Mellenthin

ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 411 / 12.02.1998


William D. Rubinstein, The Myth of Rescue, London und New York 1997, Verlag: Routledge, 267 Seiten. Der Preis liegt umgerechnet bei etwa 60 Mark.


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