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Ungarns Juden und das "Eichmann-Angebot"

Ungarns Juden und das "Eichmann-Angebot"

Zu Yehuda Bauers Buch "Freikauf von Juden"

Die Verhandlungen, die Juden vor dem und während des Zweiten Weltkriegs mit Deutschen führten, um andere Juden zu retten, waren in Israel jahrzehntelang eines der emotionsgeladensten, umstrittensten Themen. Dieser Streit hatte seinen ersten Höhepunkt in den 50er Jahren, als er an der tagespolitischen Frage der Verhandlungen mit Bonn über die "Wiedergutmachung" zu einem parteitaktisch aufgeladenen Zentralproblem verschmolz.

Die Hauptlinie der Konfrontation ist damit bereits bezeichnet: Israels oppositionelle radikal-nationalistische Rechte warf den Vorgängern der sozialdemokratischen Regierungspartei vor, sie hätten in politisch und moralisch unzulässiger, verwerflicher Weise mit den deutschen Nationalsozialisten paktiert, und sie hätten zugunsten eigener Vorteile andere Juden verraten, sie den Mördern ausgeliefert. Es war und ist, jenseits der Suche nach historischer Gerechtigkeit, ein Thema, das sich zur Instrumentalisierung in der israelischen Parteipolitik anbietet.

Diese Seite der Diskussion hat Tom Segev in seinem Buch "Die siebte Million: Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung" (1) umfassend dargestellt und kommentiert. Die deutsch-jüdischen Verhandlungen sind dort allerdings nur ein Punkt unter mehreren, und Segev ging es weniger um die historischen Tatsachen, als um die Auswirkungen für die israelische Innenpolitik und den gesellschaftlichen Diskurs. Die geschichtlichen Ereignisse hat er daher nur soweit referiert, wie es ihm zum Verständnis nötig erschien.

1994 veröffentlichte der Historiker Yehuda Bauer eine zusammenfassende Darstellung der Verhandlungen: "Jews for Sale? Nazi-Jewish Negotiations, 1933-1945 ". Seit einigen Monaten liegt sie auf deutsch unter dem Titel "Freikauf von Juden?" vor.

Im Wesentlichen untersucht Bauer vier unterschiedliche Phasen von Verhandlungen:

- Erstens der mit dem Haavara-Abkommen (2) verbundene Versuch, nach dem Regierungsantritt Hitlers 1933 soviel Juden wie möglich die Ausreise aus Deutschland nach Palästina zu ermöglichen.
-Zweitens die Lösegeld-Verhandlungen 1942-43, die zu einer Unterbrechung der Deportationen aus der Slowakei in die Vernichtungslager führen sollten. Daraus entwickelte sich ein sehr naiver Plan einiger slowakischer Juden, mit einer Bestechungssumme von maximal einigen Millionen Dollar ein Ende des Völkermords an den europäischen Juden insgesamt zu erreichen.
- Drittens die Verhandlungsbemühungen und Auseinandersetzungen, die von dem "Eichmann-Angebot" 1944 ausgelöst wurden: Die Rettung und Freilassung von einer Million Juden im Tausch gegen 10.000 Lastkraftwagen.
- Und viertens die zahlreichen kleinen, und im Kleinen auch durchaus erfolgreichen, Bemühungen, zwischen Herbst 1944 und Kriegsende Mai 1945 einzelne Gruppen von einigen hundert oder tausend Juden durch Verhandlungen mit den Deutschen vor dem Tod zu retten.

Das "Eichmann- Angebot" ...

Bauers Verdienst besteht in der vermutlich erstmaligen Zusammenfassung aller Ereignisse, die unter dem Stichwort "deutsch-jüdische Verhandlungen" diskutiert werden. An neuen, bisher unbekannten oder unzureichend berücksichtigten Fakten und Quellen bietet er nur wenig und vermutlich überhaupt nichts Entscheidendes. Das ist dem Autor nicht anzulasten, sondern darauf zurückzuführen, daß erstens diese Vorgänge bereits sehr oft und gründlich bearbeitet wurden, und daß zweitens über die begrenzte Quellenlage wohl nicht mehr hinauszukommen ist.

Das entscheidende Problem dabei ist, daß die Absichten und Widersprüche auf der deutschen Seite nicht ausreichend aufzuklären sind, weil ohnehin vieles gar nicht erst schriftlich formuliert wurde und weil darüber hinaus wichtiges Aktenmaterial in den letzten Kriegsmonaten systematisch vernichtet wurde, um es nicht in die Hände der Sieger fallen zu lassen. Vor allem bei der Erforschung und Einschätzung des "Eichmann-Angebots" sind wahrscheinlich keine nennenswerten Fortschritte mehr zu erreichen, obwohl gerade dies der interessanteste und umstrittenste Problemkreis im Zusammenhang der Verhandlungen ist.

Über die bereits vorliegenden Arbeiten hinaus geht Bauer in der Darstellung des geheimdienstlichen Milieus, in dem die Verhandlungen teilweise geführt oder angebahnt wurden. Auch mit einigen praktischen Aspekten der "Friedensfühler" maßgeblicher deutscher Kreise, in erster Linie Himmlers, seit der offensichtlichen Kriegswende Ende 1942 hat sich Bauer genauer beschäftigt als bisher geschehen. Eine umfassende Untersuchung zu diesem Thema fehlt allerdings immer noch.

Das "Eichmann-Angebot" steht zweifellos im Zentrum des Buchs von Yehuda Bauer, denn in diesem Vorgang bündeln sich die politischen und moralischen Streitfragen.

Deutschland hatte im Sommer 1941 den Völkermord an den Juden mit Massakern im besetzten Teil der UdSSR begonnen. Seit Herbst 1941 wurden die deutschen Juden zur Ermordung "nach Osten" abtransportiert. Im Spätherbst 1941 und im Verlauf des Jahres 1942 wurden die Vernichtungslager, vor allem in Polen, aufgebaut. Seit Frühjahr/Sommer 1942 wurden dorthin auch Juden aus dem übrigen besetzten Europa deportiert.

1944 waren die Juden Ungarns mit über 700.000 Menschen - nach deutscher Definition sogar 8.-900.000 - als letzte große Gruppe übrig geblieben. Ungarn war zwar mit Deutschland im Krieg verbündet und hatte ein halbfaschistisches Regime, besaß aber weitgehende innenpolitische Selbständigkeit. Diese wurde erheblich eingeschränkt durch die deutsche Besetzung am 19. März 1944. Zu den Zielen dieser Aktion gehörte, neben den militärischen Aspekten, auch die Einbeziehung der ungarischen Juden in die "Endlösung", in den Völkermord. Seit Anfang April wurden die Juden "ghettoisiert", das heißt in Übergangslagern und Städten entlang der Bahnlinien zusammengetrieben, um den Abtransport nach Auschwitz vorzubereiten.

Vermutlich am 25. April 1944 - die Angaben sind unterschiedlich und nicht mehr verifizierbar - machte Eichmann einem Vertreter der Budapester Juden, Joel Brand, das "Angebot", eine Million Juden freizugeben, wenn dafür von den USA und Großbritannien Waren geliefert würden. Als Hauptforderung kristallisierte sich die Forderung nach 10.000 "winterfesten" Lastkraftwagen heraus, die ausschließlich an der Ostfront eingesetzt werden sollten. Der Vorschlag zielte ganz offensichtlich darauf ab, Mißtrauen zwischen den Kriegsgegnern zu schüren und eine Verhandlungslinie zu den Westmächten herzustellen.

Wie zur Demonstration der Erpressung fuhren am 29. und 30. April erstmals zwei Züge mit insgesamt rund 3.800 Menschen nach Auschwitz. Am 17. Mai wurde Joel Brand nach Istanbul geschickt, um dort Verhandlungen mit dem "Weltjudentum", wie es nur in den Vorstellungen der Deutschen bestand, anzuknüpfen. In seiner Begleitung befand sich ein jüdischer V-Mann des ungarischen Geheimdienstes und der SS, dem anscheinend der eigentliche politische Geheimauftrag anvertraut war: die Erkundung von Möglichkeiten für einen Friedensschluß zwischen Deutschland und den Westmächten.

Zwei Tage vor Brands Abreise hatten die allgemeinen Deportationen der ungarischen Juden nach Auschwitz begonnen, mindestens drei Güterzüge täglich, ungefähr 4.000 Menschen in jedem Zug. Die Zionisten, zu denen Brand in Istanbul Kontakt aufnahm, forderten ihn auf, zu Gesprächen nach Palästina zu kommen, das damals britisches Mandatsgebiet war. Am 7. Juni wurde Brand beim Versuch der Einreise von englischer Polizei in Haft genommen und für die nächsten Monate aus dem Verkehr gezogen. Am 19./20. Juli wurde das "Eichmann-Angebot" in englischen und amerikanischen Tageszeitungen, denen das Material von ihren Regierungen zugespielt worden war, bekanntgegeben und schärfstens verurteilt. Damit war es endgültig erledigt.

... und die Westmächte

Inzwischen waren die Deportationen aus Ungarn Anfang Juli auf Anweisung des Diktators Horthy eingestellt worden. Das war offenbar in erster Linie auf den Druck der USA sowie die Proteste des Vatikan und mehrerer neutraler Regierungen zurückzuführen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren rund 435.000 Juden nach Auschwitz geschafft worden. Die meisten wurden sofort in den Gaskammern ermordet oder starben an den Folgen von Zwangsarbeit, Unterernährung, mörderischen sanitären Verhältnissen und auf den "Todesmärschen" in den letzten Kriegsmonaten.

Niemand hat bisher die Ansicht vertreten, die Westmächte hätten über das deutsche "Angebot" ernsthaft verhandeln sollen. Einige Autoren entziehen sich der Problematik durch die rein hypothetische Argumentation, es sei Himmler mit diesem Vorschlag ohnehin nicht ernst gewesen. Bauer beschreitet diesen fragwürdigen Ausweg nicht. Er schreibt: "Die entscheidende Rolle der Sowjetunion im Kampf gegen das Dritte Reich war die tragende Säule in der Strategie der Alliierten. [...] Ohne die Sowjets, ohne ihr unermeßliches Leiden und ihre unbeschreibliche Tapferkeit, hätte der Krieg vielleicht noch Jahre gedauert, vielleicht hätte er ohne sie gar nicht gewonnen werden können. Die Verantwortlichen im Westen wußten das. Niemals hätten sie ihre delikaten Beziehungen zu ihren sowjetischen Verbündeten durch Verhandlungen mit dem obersten Mörder des NS-Regimes [d.h. mit Heinrich Himmler] gefährdet. Und ganz bestimmt nicht durch Verhandlungen über Juden, diese problematische und unbeliebte Minderheit." (S. 401)

Diese Interpretation Bauers erfüllt die Wünsche nach verschiedenen Seiten: Sie legt einerseits, in ihrem ersten Teil, die Deutung nahe, daß die Entscheidung der Westmächte gegen Verhandlungen zwingend geboten war, weil eine andere Wahl die Nationalsozialisten möglicherweise für lange Zeit zu Herren über einen großen Teil Europas gemacht hätte. Zugleich suggeriert Bauer aber auch, die Ablehnung der Regierungen in Washington und London sei wesentlich dadurch beeinflußt worden, daß es sich bei den Geiseln um Juden handelte. Wäre sie demnach nicht so eindeutig ausgefallen, wenn es sich um eine andere Bevölkerungsgruppe gehandelt hätte? Und wäre eine andere Entscheidung vielleicht doch wünschenswert gewesen? Eine Ambivalenz bleibt; vielleicht ist sie unvermeidlich.

Frontal kritisiert die Entscheidung der Westmächte niemand. Es gibt aber eine Reihe von Autoren - darunter etliche, die damals in irgendeiner Form an den Verhandlungen zwischen Juden und Deutschen beteiligt waren -, die in vorsichtiger Form die These vertreten, daß eine alternative Taktik möglicherweise viele Juden hätte retten können. Dies deutet auch Bauer an, ohne der Frage sehr weit nachzugehen. Man hätte, so wird argumentiert, zum Schein eine grundsätzliche Bereitschaft zu Gesprächen über das "Eichmann-Angebot" zu erkennen geben können, um erst einmal Zeit zu gewinnen und eine Unterbrechung der Deportationen zu erwirken.

Tatsächlich scheint es so, jedenfalls in den Erzählungen Joel Brands, als hätte Eichmann versprochen, die ersten 100.000 Juden mit Zügen an die spanische Grenze zu schaffen und freizugeben, sobald Verhandlungen mit den Westmächten und mit dem "Weltjudentum" begonnen hätten. Je nach dem Tempo der erzielten Fortschritte sollten weitere Juden ausreisen dürfen.

Hätte man also die Deutschen durch Finten irreführen und hinhalten können? Die Frage ist wiederum hypothetisch, aber mit diesem Vorbehalt meiner Ansicht nach zu verneinen. Die Deportationen aus Ungarn nach Auschwitz erfolgten in einem bis dahin beispiellosen Tempo, und daher liegt die Schlußfolgerung nahe, daß sehr schnell ein substantielles und hochrangig abgesichertes Verhandlungsangebot des Westens hätte vorliegen müssen, um die Züge noch aufzuhalten.

Was bisher bekannt ist - und wesentlich mehr wird das bei der schlechten Quellenlage wohl nicht werden -, läßt darauf schließen, daß zu dieser Zeit zwischen Himmler und Eichmann ein erheblicher Dissens bestand. Die Idee eines großen Tauschhandels mit den überlebenden Juden, um mit den Westmächten eine Verhandlungslinie aufzubauen, ging von SS-Chef Himmler aus. Er besaß dazu vermutlich nicht die direkte Zustimmung oder gar einen Auftrag Hitlers, sondern nur eine sehr allgemeine Konzession, die er sich schon Monate vorher verschafft hatte. Diese Anweisung Hitlers sagte lediglich aus, daß die Freigabe von Juden zur Erlangung materieller Vorteile prinzipiell zulässig sei.

Eichmann hingegen war in erster Linie vom Ehrgeiz motiviert, so viele Juden wie möglich ermorden zu lassen. Große politische Strategien interessierten ihn kaum, zumal er ihnen wahrscheinlich keine entscheidende Bedeutung und Erfolgsaussicht zumaß. Eichmanns Deportationsplan für Ungarn war darauf angelegt, den Zeitspielraum für die Brand-Mission gering zu halten und durch ein beispielloses Tempo des Mordens vollendete Tatsachen zu schaffen. Unter diesen Umständen wäre es für Himmler äußerst problematisch gewesen, nur aufgrund eines vorgetäuschten Verhandlungssignals der Westmächte hin die Einstellung der Deportationen anzuordnen und aufrecht zu erhalten.

Zentralität des Holocaust in der NS-Politik

Yehuda Bauer ist offenbar in extremer Weise Anhänger der Theorie von der Zentralität des Holocaust in der NS-Politik. Diese Theorie läuft darauf hinaus, daß der Mord an den Juden der Hauptzweck des Nationalsozialismus war und alles andere diesem einen Ziel untergeordnet war. Deutschland habe daher den Krieg "nicht aus pragmatischen, militärischen, wirtschaftlichen oder politischen Erwägungen und Interessen geführt, sondern aus rein ideologischen Gründen. [...] Der Krieg war letztendlich ein Krieg gegen die Juden." (S. 73)

So kategorisch und evident überzogen, wie Bauer diese Theorie vertritt, hat er Mühe, die Freilassung von Juden - real praktiziert oder als Tauschhandel angeboten - so zu interpretieren, daß sie nicht als Widerspruch zu seiner Grundbehauptung erscheint: Ja, räumt Bauer ein, "immer dann, wenn sich dadurch taktische Vorteile erzielen ließen", haben die Deutschen auch Juden laufen lassen. "Dazwischen sah man [...] keinen inneren Widerspruch. [...] Die NS-Schergen gingen davon aus, daß sie den Krieg gewinnen würden und dann die ,Judenfrage` durch totale Vernichtung endgültig ,lösen` könnten. Auch die Juden, die man entkommen ließ, würden am Ende gefangen und getötet." (S. 395)

Diese Deutung muß in Zusammenhang mit einer weiteren Aussage Bauers gelesen werden: "Die Politik der ,Endlösung` stellte keinen vollständigen Bruch mit der Auswanderungs- und Austreibungspolitik dar, die ihr vorausging. Beide basierten auf dem gleichen Prinzip, das Hitler schon 1919 formuliert hatte: Es ging darum, die Juden allesamt zu ,entfernen`." (S. 396, Hervorhebung im Orig.)

Aber selbstverständlich ist Vertreibung etwas grundsätzlich anderes als Ermordung, auch wenn man beides mit dem gleichen Wort "Entfernen" bezeichnet. Jemanden zu vertreiben, wird oft zur Folge haben, daß man ihn künftig nicht mehr ermorden kann. Vor diesem Dilemma stand die NS-Politik: In den ersten Jahren ihrer Herrschaft hatte die NSDAP die Vertreibung der Juden aus Deutschland forciert, selbst um den offensichtlichen Preis, daß damit das zionistische Staatsprojekt in Palästina gefördert wurde. 1937/38 setzte sich dagegen im NS-Apparat die Auffassung durch, daß die "Judenfrage" im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung durch Vertreibung der Juden aus Deutschland keineswegs zu lösen war.

Konnten denn die Nationalsozialisten damit rechnen, daß es bald einen Weltkrieg geben würde, den sie natürlich gewinnen würden, so daß man die vertriebenen Juden dann immer noch greifen und ermorden könnte? Etwa zwei Drittel der Juden, die Deutschland bis Kriegsbeginn verließen, wanderten nach Palästina oder nach Übersee aus. Zutreffend weist Bauer darauf hin, daß der Krieg, den Hitler nach dem deutschen Überfall auf Polen "bekam", durchaus nicht der war, den er gewollt hatte: Er hatte einen Krieg gegen England vermeiden wollen, er hat auch einen Krieg gegen die USA mit ihrem ungleich größeren Potential vermeiden wollen. Selbst ein militärischer "Sieg" über die Vereinigten Staaten konnte höchstens zu einer Pattsituation führen und hätte keineswegs zur Folge gehabt, daß man die dort lebenden Juden ermorden konnte. Soweit reichte auch der Verstand der meisten NS-Führer.

Wenn Himmler 1944 die Freigabe von einer Million Juden offerierte, um einen Frieden (und vielleicht ein Bündnis) mit den Westmächten auszuhandeln (und alle Kräfte auf den Osten konzentrieren zu können), so hätte das für die Fortführung der "Endlösung der Judenfrage" nicht nur eine kurzfristige Vertagung, sondern ihre Aufgabe in der bisherigen Form bedeuten müssen. Denn daß man sich einerseits mit den USA und Großbritannien verständigen, aber andererseits weiterhin die Juden im deutschen Machtbereich massakrieren könnte, glaubte vermutlich keiner der maßgeblichen deutschen Politiker.

Der deutsche Nationalsozialismus hat von Anfang an die physische "Vernichtung" der Juden als Gruppe, praktiziert als Ermordung von so viel Juden wie möglich, als eine zentrale Option betrachtet. Das geschah aber nicht mit der absoluten Ausschließlichkeit, jede davon abweichende Handlung nur als kurzfristigen taktischen Umweg zu dem einen und einzigen strategischen Endziel zu begreifen. Das monokausale Erklärungsmuster, das den Nationalsozialismus fast nur noch als Instrument zur "Judenvernichtung" begreift - und ihm oft auch kaum noch etwas anderes vorwirft - greift sichtlich ebenso zu kurz wie das ökonomistische Modell, das den Holocaust nur noch als Spezialfall imperialistischer Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Raumpolitik interpretiert.

Knut Mellenthin

ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 395 / 17.10.1996


Anmerkungen

1) Tom Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Deutsch von Jürgen Peter Krause und Maja Ueberle-Pfaff. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1995. (Hebräische Originalausgabe 1991, englische Ausgabe 1993)

2) Haavara (hebr.) = Transfer, hier: Kapitaltransfer. - Transferabkommen, das 1933 im Namen der Jewish Agency (Quasi-Regierung der Juden in Palästina) mit dem deutschen Reichswirtschaftsministerium geschlossen wurde. Das Abkommen regelte den Transfer von Auswanderervermögen durch Verrechnung deutscher Warenexporte nach Palästina.


Yehuda Bauer: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945. Aus dem Englischen von Klaus Binder und Jeremy Gaines. Frankfurt am Main (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag) 1996. 464 S., 56 DM.


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